STIFTUNG LESERATTEN

■ Lyrik & Jazz in der Gethsemanekirche

Nein, die Wahl des Veranstaltungsortes sei sicherlich kein Zufall, sagt einer der Ostberliner Organisatoren. Immerhin kann sich die Gethsemanegemeinde brüsten, jahrelange Heimstatt für „Regimekritiker“ gewesen zu sein. Alles vorbei. Regime kaputt, Kritiker kaputt. Hätte man nicht wenigstens ein paar ausgediente Stasifreaks vorm Eingang des roten Backsteingebäudes postieren können, quasi als Authentizitätsreminiszenz? Statt dessen stellen sich einem schwer brummende Übertragungswagen des „Deutschen Fernsehfunks“ mitten in den Weg.

Und wer Massen von langmähnigen Jesuslatschenträgern erwartet hatte, wird ebenfalls enttäuscht. Westpumps schlagen Ostsandalen, Jeans sind schon fast wieder eine Provokation. Man spricht leise. Irgendetwas wird hier beerdigt.

Allerdings nicht durch eigene Totengräber. Das gesamte Personal auf dem Kirchenpodium ist ein Westimport. Die SchauspielerInnen Senta Berger, Erika Pluhar, Elisabeth Trissenaar, Jutta Wachowiak, Ingo Hülsmann und Karl Michael Vogler tragen am Donnerstag und Freitag Lyrik vor. Allesamt sitzen sie in einer Reihe nebeneinander, manchmal steht jemand auf, um die Stimme zu erheben. Links neben ihnen die Jazzabteilung: Albert Mangelsdorff, Posaune, Walter Norris, Piano und Aladar Pege, Baß. Der einzige angekündigte DDRler der Aufführung, Conny Bauer, spielt nur in der BRD mit. Das sei aber nicht so schlimm, weil die Posaune sonst doppelt besetzt gewesen wäre, meint ein Veranstalter.

Finanzieller und organisatorischer Träger von „Lyrik & Jazz“ ist die westdeutsche „Stiftung Lesen“. Ein Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die „neue Armut im Kopf durch Konzepte und Programme der Leseförderung anzugehen“. Schirmherr ist Bundespräsident Dr.Richard von Weizsäcker: „Wir sind uns im Ziel ganz einig: für das Lesen einzutreten und den Menschen nahezubringen, daß sie selber mehr Chancen und mehr Freude im Leben haben, wenn sie mehr lesen.“ Darüber wacht der Stifterrat mit viel American Express, Bosch, Daimler, Springer und vielen anderen Leseratten. Das Motto hat man sich bei Peter Rühmkorf ausgeliehen: „Bleib unerschütterbar und widersteh‘.“

Texte, Gerichte und Lyrik von über vierzig Autoren hat Regisseur Volker Kühn ausgewählt und zusammengestellt. Wer welchen Text wann spricht, wurde mit den SchauspielerInnen angeblich heftig diskutiert. Sie hatten die Auswahl von Enzensberger über Schwitters, Jandl, Brecht, Tucholsky bis zu Heiner Müller und der Todesfuge von Paul Celan.

Obwohl die Texte nicht speziell für einen DDR-Auftritt ausgewählt wurden - man führt das gleiche Programm auch nicht in Frankfurt und Stuttgart auf - wirkt fast alles wie ein Kommentar zum Wiederausbruch einer Krankheit: Deutschland. Kurt Schwitters: „An das Proletariat Berlins: Nicht in den fahrenden Genossen springen, wenn der Zug hält.“ Nostalgisch bis antiquiert kommen Sätze wie: „Will mich etwas beugen - lieber breche ich - Ich bleibe ich.“ „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.“ „Verlaß‘ dich drauf, bald gibt es wieder eine Revolution.“

Alles wird mit ernster Miene und Stimme vorgetragen, tief traurig schleppt sich der Bogen über die trägen Baß-Saiten. Die Posaune tutet wie ein fernes Schiff im Nebel, untermalt die trockene Stimme von Erika Pluhar, die Ingeborg Bachmann spricht. Als Einschub ein Stück Jazz, nicht zu schnell, nicht aggressiv, eher Hintergrundmusik als sarkastischer Kommentar zur maroden Weltlage. Das Publikum applaudiert Hoffnungen: „Ich warte auf eine Wiedergeburt des Wunders“, unterschreibt Brechtsche Wahrheiten: „Denn wer könnte den Weg weisen, der ihn nicht gegangen ist.“ Gegen die Texte kann man nichts einwenden, gegen ihren Vortrag nichts, gegen die Musik auch nichts, und doch sträubt sich igend etwas. Warum gerade jetzt Lyrik? Und dann noch in einer Kirche, während konservative Pfaffen als kommandierende „Abrüstungsminister“ in eine Regierung gewählt werden, die stolz darauf ist, Konkursverwalter des eigenen Volks zu sein.

Wenn die noch real existierenden Schriftsteller selbst schon längst wieder in der sinnierenden Versenkung verschwunden sind, müssen andere ihre Texte vorlesen. Schauspieler beispielsweise. Wie problematisch dies sein kann, beweist Senta Berger mit der Todesfuge von Celan. Man hat noch den eindringlichen Ton Celans selbst im Ohr, dessen eigener Vortrag unlängst in der Dokumentation „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ noch einmal zu hören war. Senta Berger versucht sich weinerlich bis trotzig an den Zeilen eines KZ-Orchestermitglieds: „Spielt süßer den Tod, streicht dunkler die Geigen, dann steigt ihr als Rauch in den Himmel.“ Man geht mit einem Gefühl aus der Kirche, das Richard von Weizsäcker nicht perfekter hätte illuminieren können: an irgend etwas fühlt man sich schuldig.

Andreas Becker