Volkes Stimme

Die Hauptstadt und die Osteuropäer  ■ K O M M E N T A R

Rumänien ist momentan Synonym für Mitleid. Ein jahrzehntelang drangsaliertes und ausgebeutetes Volk, das zudem die Weltöffentlichkeit per TV an der eigenen Befreiung teilhaben ließ, ist ein Spende aufs Hilfskonto wert. Aber wehe, sie bleiben nicht dort, wo es ihnen dreckig geht, nämlich in Rumänien... Knapp über 1.000 sind mittlerweile nach Ost-Berlin geflüchtet. Die AnwohnerInnen und auch völlig Unbeteiligte entrüsten sich über das „zerlumpte Aussehen“ der Flüchtlinge. Innenminister Diestel von der DSU konstatiert - ganz Volkes Stimme - ein „unwürdiges Äußeres“ und erwägt die Einschränkung der Visumfreiheit.

Der Mann ist lernfähig, denn letztlich tut er nichts anderes, als sich am rot-grünen Senat ein Beispiel zu nehmen. Zeigt doch ein Blick über die Reste der Mauer, daß der so unglaublich multikulturelle Westteil der angehenden Metropole handelnde und kaufende Menschen aus Polen nicht ertragen kann. Die Weltoffenheit verkommt zur Luftblase, statt dessen wünscht man sich das Modell der Wagenburg mit Hauptstadtanspruch und regelbarer Durchlässigkeit. Visumzwang heißt das Zauberwort hüben wie drüben - offene Grenzen ja, aber nur für die Touristen, die Museen und Hotels füllen, und nicht die Tax-Free-Shops und Aldi -Märkte.

Die Sonntagsreden zur Hauptstadt Berlin von SPD bis CDU haben längst zwanghafte Ausmaße bei allen Politikern angenommen - vom Regierenden Bürgermeister (West) über den angehenden Oberbürgermeister (Ost), nebst dazugehöriger CDU. Als ob man mit diesen Beschwörungsformeln eines ignorieren könnte: Berlin - egal ob Ost oder West - wird nicht nur Millionenstadt mit Hauptstadt- und Business-Glamour, sondern auch Drehscheibe und Fluchtpunkt für die Armen Osteuropas. Diesen Fakt haben bislang nur die Ordnungspolitiker auf beiden Seiten zur Kenntnis genommen - und reagieren mit ordnungspolitischen Methoden - ganz nach dem Gusto des deutschen Volkes Stimme.

Andrea Böhm