Down and Out in New York City

■ Obdachlose von Manhattan leben in U-Bahnstationen und Tunnelschächten/Ein erster Versuch der Selbsthilfe

Mike will mich unbedingt nach Hause begleiten. Er meint, es sei zu gefährlich für mich, morgens um vier Uhr allein durch die Straßen Manhattans zu gehen. Mike ist „homeless“, einer der 80.000 Obdachlosen in New York City. Nachts schläft er auf der Straße, in Hauseingängen, in irgendeiner Nische. Tagsüber verdient er ein wenig Geld, indem er Fremden am New Yorker Hauptbahnhof Grand Central den Weg erklärt, oder ihnen die Koffer trägt. „I quitted my job because they treated me as a nigger - not better than now. So why should I work?“ Mike sieht keinen Unterschied zu seinem früheren Leben - auch als er noch einen Job hatte, ist er als Schwarzer diskriminiert worden. Nun hat er Arbeit und Wohnung aufgegeben.

Nach einer Untersuchung der New York Transit Authority sind von den 1.215 Menschen, die nachweislich in der Untergrundbahn leben, 65Prozent Schwarze. Im Zeitraum vom 16. bis 21.März 1989 machten sich die New Yorker Verkehrsbetriebe daran, ihre „Bewohner“ zu zählen. Viele sind nur „Durchreisende“, sie fahren ständig in der U-Bahn umher und halten sich nicht in einer bestimmten Subway -station auf, daher konnte die Zahl der unterirdischen Bevölkerung nicht mit Sicherheit ermittelt werden. Ein Bediensteter der Manhattan Transit Authority (M.T.A.) schätzt, daß im Winter 2.000 Menschen in der Subway leben, im Sommer etwa die Hälfte.

Aber der Aufenthalt an den warmen Plätzen wird den Obdachlosen immer mehr erschwert. Die Verkehrsbetriebe öffnen ihnen zwar die Tore der U-Bahnstationen, wenn die Temperatur unter Null sinkt, aber zugleich macht man es ihnen immer schwerer, im Grand Central und im Busbahnhof Port Authority ein warmes Plätzchen zu finden. In die Abfahrts- und Ankunftshallen dürfen nur noch Passagiere mit Fahrausweis; auf Plakaten wird eindrucksvoll dargestellt, was mit Personen geschieht, die den Bahnhof verschmutzen: Sie werden brutal rausgeschmissen oder von der Polizei verhaftet und abgeführt. Die Bänke in den Stationen sind durch unbequeme Einzelsitze ersetzt worden, im Grand Central versucht man, die Störenfriede mit Hunden zu vertreiben.

Keiner will das Elend sehen

M.T.A.-Manager Lynn Tierney macht sich Gedanken, was wohl geschehen würde, wenn sich nur 200 der 500 Armen, die der Port Authority täglich beherbergt, in den Flughafenterminals des Kennedy-Airport aufhalten würden: „People get off a plane from Japan and are greeted with the sight of 200 homeless in the international arrivals building at Kennedy -Airport.“ Diesen ersten Eindruck sollen die Besucher aus aller Welt natürlich nicht bekommen.

Also will Tierney das Elend auch aus den Bahnhöfen heraushaben, schließlich kommen dort die Busse vom Flughafen an.

Die Maßnahmen der New Yorker Verkehrsbetriebe treiben die Obdachlosen auf die Straße, und dort sind sie auch nicht gerne gesehen. Mehr als die Hälfte der New Yorker wäre bereit, hundert Dollar mehr Steuern im Jahr zu zahlen, um das „Gesindel“ nicht mehr täglich sehen zu müssen. Statt zu betteln oder Windschutzscheiben sauberzumachen, sollen sie sich in die Hausruinen von Brownsville verziehen: „I would pay 100 Dollar and more in taxes to help the homeless, although the panhandlers and car window washers are a nuisance. They should find burned-out places in East New York or Brownsville and spend a little money and renovate them.“ Terry Griffin aus Brooklyn machte diesen Vorschlag in einem Interview mit der 'New York Times‘ im Juli 1989. Man könne den Armen doch ausgebrannte Häuser zur Verfügung stellen, die sie renovieren könnten.

Ruinen für die Ausgebrannten?

Einen ähnlichen Plan hatte bereits der ehemalige Bürgermeister Ed Koch. Kurz vor den Bürgermeisterwahlen im November 1989 präsentierte er das Vorhaben, 500 Millionen Dollar für die Renovierung 3.000 stadteigener verfallener Gebäude und für den Bau von 4.000 Wohnungen zu Verfügung zu stellen. Bereits 1988 hat die Stadt New York 354 Millionen Dollar für Hilfsmaßnahmen ausgegeben. Von dem Geld wurden Armenküchen eingerichtet, Beratungseinrichtungen geschaffen, neue Asyle gebaut, alte renoviert. Es gibt insgesamt 25 Obdachlosenasyle und sogenannte „bowery hotels“, in den im Winter an die 11.000 Menschen übernachten. Die Bedingungen sind oft miserabel, meist befinden sich die Asyle in ehemaligen Kasernen oder Waffendepots. Da steht Bett an Bett in den riesigen Räumen, die schlecht zu heizen sind, es gibt Ratten und Ungeziefer. Und das ist nicht die einzige Gefährdung: Die Männer und Frauen, die dort nächtigen, bestehlen einander, manchmal werden sogar Menschen umgebracht. Die meisten der „bowery-bums“, der „freaks“ und „bagladys“ sind alkohol- und drogenabhängig, sie wissen oft gar nicht, was sie tun.

Selbst in den kältesten Nächten ziehen es deshalb viele Obdachlose vor, sich einen Schlafplatz im Freien zu suchen. Eine Kältewelle mit Temperaturen von minus 40 Grad forderte im Dezember 1989 vierzig Tote. Doch nicht einmal in den Parks läßt man die Penner in Ruhe. Keith Summa von der Organisation „Coalation For The Homeless“ beklagt die rüden Methoden, mit denen die Polizisten die Schlafenden von den Parkbänken verscheuchen - da wird zum Beispiel mit dem Knüppel direkt neben dem Kopf des Schlafenden auf die Bank geschlagen. Und vom alten New Yorker Colloseum will man die Obdachlosen durch laute Sirenen verscheuchen.

Zuflucht im Untergrund

Da bleibt ihnen nur der Weg in die Unterwelt. Die Untersuchung der M.T.A. erbrachte nicht nur Erkenntnisse über die Zahl der Subway-Bewohner, sondern man kam noch einem anderen Phänomen auf die Spur - den Tunnelmenschen. Wahrhaft Unglaubliches könne man in den Tunnelsystemen der U -Bahn erleben, meinte Stadtrat Abraham Gerges in einem Interview der 'New York Tribune‘: „If someone ever wanted to see something you wouldn't believe in this century, you have to visit not the subways but the tunnels within the subways.“ Viele der Subway-Bewohner leben in stillgelegten Tunnels, teilweise in möblierten und tapezierten Höhlen tief in den Schächten des U-Bahnsystems. Spielsachen, die Mitarbeiter der M.T.A. gefunden haben, deuten darauf hin, daß auch Kinder dort hausen.

Nach Tierneys Angaben gibt die M.T.A. inzwischen 1,5 Millionen Dollar pro Jahr aus, um zwei „drop-in-center“ zu unterhalten - eines gegenüber dem Busbahnhof und ein weiteres, das zusammen mit der Trinity Church geführt wird, gegenüber dem World Trade Center. Die Kirchen engagieren sich in vielfacher Weise. In über hundert Kirchen New Yorks richten Freiwillige jeden Abend Betten für die Obdachlosen. Sogar unter der Orgel der St. Paul's Kirche, die zur Trinity Church gehört, darf geschlafen werden.

Finden die Verlorenen zusammen?

Inzwischen gibt es auch eine Selbsthilfeorganisation, die von Obdachlosen gegründet wurde. Anfangs wurde die von dem Obdachlosen Steve Riley 1988 ins Leben gerufene „United Homeless Organisation“ (UHO) allgemein belächelt. „Keiner glaubte daran, daß sich die „homeless“ selbst helfen könnten. Heute hat die UHO 5.000 registrierte Mitglieder und ist damit die größte Obdachlosenorganisation der USA. Ihre Mitglieder sammeln und verteilen Kleidung, geben Nahrungsmittel aus und informieren darüber, welche Institutionen und Kirchen Essen spenden. Die Rechtsberatungsabteilung gibt Tips, wie man an Sozialhilfe kommt, welche Resozialisierungsmaßnahmen die Stadt anbietet, und wie man sich durch kostenlosen Schulbesuch weiterbilden kann. Die UHO will zeigen, wie man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. „They Can't Find You - You Have To Find Them! Here's How.“ steht auf einem der Flugblätter, die Mitglieder der UHO im Grand Central verteilen - eine Aufforderung, sich an die Hilfsorganisationen zu wenden. Durch Presseerklärungen und Flugblätter versucht die UHO, auf die Situation der Obdachlosen aufmerksam zu machen und Spenden zu sammeln. Ihre Arbeit hat schon Wirkung gezeigt: Eine Umfrage der 'New York Times‘ im Juli 1989 ergab, daß der Bevölkerung New Yorks das Obdachlosenproblem bewußter geworden ist. 1985 war nur 60 Prozent der befragten Männer und 58 Prozent der Frauen aufgefallen, daß es Obdachlose auf den Straßen Manhattans gibt. 1989 nahmen das Problem immerhin schon 84 Prozent der männlichen und 81 Prozent der weiblichen Befragten wahr.

Harte Kontraste

Auch mir ist das Elend in der Stadt New York in dieser Nacht sehr deutlich geworden. Um 23 Uhr sah ich noch die Chauffeure vor den Theatern des Broadway auf ihre Herrschaften warten - in diesen überlangen Limousinen, die aussehen, als müßten sie jeden Augenblick in der Mitte durchbrechen. Vor dem Luxushotel Marriot herrschte reges Treiben, schwarze Bedienstete in Uniform luden Koffer in schwarze Cadillacs, öffneten den Ladies in Pelzen die Tür und riefen Taxis heran. Der Broadway glitzerte und funkelte im Licht der Reklame, noch waren die Obdachlosen in ihren Löchern oder verloren sich im vornehm fröhlichen Treiben am Times Square.

Jetzt, um vier Uhr morgens ist es hier noch immer nicht ruhig. Die Reichen haben den Broadway verlassen, nun wird der Ort von denen bevölkert, die kein Dach über dem Kopf haben. Betrunkene liegen wie tot auf der Straße, die Mülleimer werden nach Eßbarem und Trinkbarem durchsucht. Auch leere Coladosen sind begehrt - pro Dose gibt es fünf Cent Pfand. Am Port Authority geht es jetzt richtig rund, hier gibt es „crack“ gegen Bares, die Prostituierten verkaufen sich für 25 Cents. „Viele der Mädchen in den Unterkünften der Wohlfahrt sind gerade dreizehn - Hunderte von ihnen werden Kinder haben, bevor sie ihr siebzehntes Lebensjahr erreichen“, schrieb Jonathan Kozol im 'New Yorker‘. Die Mädchen, die hier auf den Strich gehen, werden nicht nur schwanger, sie infizieren sich auch mit Aids. Von offizieller Seite wird geschätzt, daß sich unter den Obdachlosen 9.000 Aidskranke befinden - genaue Angaben gibt es nicht.

Mike und ich gehen an den Hütten aus Kartons vorbei, in denen sich einige ihr notdürftiges Lager eingerichtet haben. Wir passieren einen Schuhputzer, der seinen Stand auch über Nacht nicht verläßt. Mike will den Winter in Florida verbringen. Ich hoffe, er hat seinen Plan verwirklicht und ist nicht unter den Toten der Kältewelle gewesen.

Am nächsten Morgen haben sich die Nachtgeister aufgerappelt. Sie werden geradezu überrollt von der Menschenmasse, die aus den Terminals des Port Authority zur Arbeit strömt. Noch gehen die Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen durch den Dreck der Nacht - bis zum Mittag wird alles weggeräumt sein, damit die Touristen bei ihren Streifzügen durch das abenteuerliche New York keinen schlechten Eindruck bekommen. Schließlich werden sie schon genug beklaut, und seit Jahren trauen sie sich nicht mehr in die Bronx und nach Harlem, weil diese Gebiete als besonders gefährlich gelten. Wenn sie wüßten, was nachts in Manhattan alles auftaucht.

Spätestens um zwölf ist der Spuk vorbei - ich komme mir vor, wie auf einem Geisterschiff, wo die Verfluchten zur Geisterstunde erscheinen und mit dem ersten Sonnenstrahl verschwinden. Aber nein, in New York kann man sie auch am Tage sehen, bettelnd, Windschutzscheiben waschend, in die Ecken gekauert, im Park, in der U-Bahn.

It's up to you, New York, New York.