Die unglückliche Revolution

■ Konferenz zur Zukunft Europas mit TeilnehmerInnen aus Ost und West

Berlin (taz) - „Europa neu denken“ wollten die Teilnehmer eines internationalen Symposiums, das am Wochenende im Schöneberger Rathaus auf Einladung der Evangelischen Akademie und des Ost-West-Forums stattfand. Gekommen waren 50-60 TeilnehmerInnen aus der Sowjetunion, Litauen, Italien, Polen, Ungarn, Holland, der DDR und anderen europäischen Ländern. Die meisten Osteuropäer kamen aus Ländern, in denen im vergangenen halben Jahr eine Revolution stattgefunden hat, und doch war kein Enthusiasmus zu spüren - viel eher Sorge.

Der Soziologe Andras Bozoki aus Budapest brachte diese Stimmung wohl auf den Punkt, als er von der „unhappy revolution“ sprach. Zu groß sind die wirtschaftlichen und innenpolitischen Probleme, um Hochgefühle aufkommen zu lassen. Hinzu kommt der Zerfall früherer Bindungen zwischen den ehemals Oppositionellen. Die Tendenz, sein Heil durch bilateralen Anschluß an die (West-) Europäische Gemeinschaft zu suchen, wird stärker. Innergesellschaftlich ist der Demokratisierungsprozeß noch lange nicht abgeschlossen. Nationalismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit sind im Wachsen begriffen, die Herausbildung einer demokratischen Kultur steckt noch in den Anfängen, ein Umschlagen der politischen Entwicklung in „populistische Regime starker Männer“ (Jiri Pelikan) ist keineswegs ausgeschlossen.

Dennoch haben sich in diesen Monaten nicht nur die einzelnen Länder, sondern Europa insgesamt grundlegend verändert. Der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas aus Bremen versuchte dem mit einer Konzeption für das künftige Europa Rechnung zu tragen. Sein „Friedensplan“ für „Europa 2000“, den er kürzlich auch in einem Bändchen bei Suhrkamp vorgestellt hat, geht davon aus, daß sich im vergangenen halben Jahr die Grundkonstellation europäischer Politik verändert hat. An die Stelle der Blockkonfrontation und der entspannungspolitischen Versuche, über die antagonistische Grundstruktur hinweg zu einem friedlichen, geregelten Miteinander zu kommen, sei jetzt die Möglichkeit getreten ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen. Dessen Basis wären in der politischen Grundstruktur weitgehend homogene demokratische Rechtsstaaten. Er verbindet seine Perspektive mit einem ausgeprägten abrüstungspolitischen Optimismus. Da nun konnte ihm Mary Kaldor nicht mehr folgen.

Aufgrund ihrer Erfahrungen in Großbritannien kam sie zu einem pessimistischen Szenario: Die Veränderungen in den osteuropäischen Ländern würden von der westlichen Seite nur als eigener Machtzuwachs verbucht. Tatsächlich einschneidende Abrüstungsmaßnahmen vermochte sie nicht zu erkennen, eher eine Umstrukturierung im Hinblick auf neue Aufgaben, nämlich die Auseinandersetzung mit der „Dritten Welt“. Notwendig sei deshalb, jetzt eine neue Friedensbewegung aufzubauen, die durch die osteuropäischen Revolutionen Ermutigung erfährt, die aber dennoch in den nächsten Jahren vor riesigen Aufgaben steht. Aus der Sicht von Senghaas ist eine solche Forderung selbst noch Ausdruck „alten Denkens“.

Wenig kontrovers verlief die Diskussion über die deutsche Vereinigung. Kritik hinsichtlich der Modalitäten äußerten hier vor allem die Teilnehmer aus der DDR, während fast alle anderen ihr Verständnis für die Vereinigung bekundeten und sich auf die Einzelheiten nicht einließen. Einzig bei den polnischen Gästen waren Differenzen wahrzunehmen. Während Kasimierz Woycicki aus Warschau von überflüssigen Irritationen wegen der Grenzdiskussion sprach, wurde Jacek Kubiak aus Poznan deutlicher. In der polnischen Bevölkerung mache sich die Angst vor einer Rückkehr zur Vorkriegssituation breit: eingeklemmt zu werden zwischen der Sowjetunion und einem Deutschland, das Gebietsansprüche erhebt. Verstärkt werde dieses Gefühl noch durch revanchistische Stimmungen in der deutschen Minderheit in Schlesien, die Bonner Relativierungen der Grenze für bare Münze nehme.

Welche Tendenz die Oberhand behalten wird: die zu verstärktem Nationalismus oder zu einer europäischen Integration auf neuer Grundlage - das wird davon abhängen, darin waren sich TeilnehmerInnen weitgehend einig, ob es gelingt, in den nächsten Jahren aus der schweren wirtschaftlichen Krise herauszukommen.

Walter Süß