Kohls Desaster

Wählervotum gegen die CDU-Deutschlandpolitik in Düsseldorf und Hannover  ■  K O M M E N T A R

Diese doppelte Landtagswahl ist das große bundesdeutsche Wähler-Orakel der deutschen Einheit gewesen. Das Orakel hat gesprochen und es klingt wie Lafontaine. Sowohl in Niedersachsen als auch NRW waren die landespolitischen Themen ausgereizt. Am Rhein gab es keine Alternative zu Rau und an der Leine regierte eine ausgelaugte Skandalregierung, die bestenfalls auf den Faktor Süssmuth hoffen konnte. Das war der Stand vor dem revolutionären Herbst in der DDR. Der Wählertrend lief seinerzeit zugunsten der SPD, zugunsten neuer Mehrheiten. Der einzige, allerdings einschneidende Faktor war Kohls einsame Entscheidung für die Einheit jetzt, sein Versuch, im Wahljahr 1990 den Sieg über die DDR-Wahl zu sichern. So mußten beide Wahlen den Charakter eines Plebiszits zum Tempo und zur politischen Linie der deutschen Einigung haben. Hinzukam, daß die CDU in beiden Bundesländern, insbesondere aber in NRW sich als die Partei der deutschen Einheit darstellte. In Nordrhein -Westfalen hat Kohl durch seine intensiven Wahlkampfauftritte die deutschlandpolitische Wahlthematik noch einmal bekräftigt. Frage war also, konnte Kohl, der Sieger der DDR-Wahlen als Triumphator in den Bundesländern einziehen. Er konnte nicht. Er ist gescheitert. Und zwar mit dramatischen Konsequenzen.

Nüchtern formuliert, könnte man sagen, der Wähler sei zum Trend des Oktober 1989 zurückgekehrt. Er hat sich nicht irre machen lassen von der radikalen antisozialistischen Demagogie. Was in der DDR zog, überzeugte nicht am Rhein, nicht an der Leine. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Was diese Wahlen erbracht haben, das ist die Wiederkehr einer rot-grünen Mehrheit als alternative Idee zur Koalition in Bonn, ungeachtet der Misere der Grünen, ungeachtet der Tatsache, daß Rot-Grün in der ganzen Deutschlandeuphorie durch politische Geistesabwesenheit, Hilflosigkeit und Nachtrabpolitik geglänzt haben. Nichts sprach für Rot-Grün außer der unausgesprochene Dissens mit den deutsch-deutschen Dingen. Kohl hat die Einheit zur Stunde der Exekutive gemacht. Mithin richtet sich das Wahlergebnis - selbst wenn es die landespolitischen Trends nur fortschrieb - vor allem gegen ihn.

Nicht nur die politische Stimmung in der Bundesrepublik ist kritischer als die Regierung will, sondern ihre politischen Bedingungen sind nicht mehr dieselben. In Niedersachsen, hart an der DDR, somit unter direkten Einfluß der Hoffnungen und Ängste auf der anderen Seite, ist die deutschlandpolitische Aussage unübersehbar. Die SPD hat hier vor allem Lafontaines Thema der „sozialen Gerechtigkeit“ hochangesetzt. Daß es in diesem Land um die Bundesratsmehrheit ging, war jeden Wähler klar.

Mit ihrem Sieg ist die SPD von einem Tag auf den anderen in der Verantwortung der deutschen Vereinigung. Die Finanzierung des Staatsvertrages, die parlamentarische Beteiligung, der Termin der gesamtdeutschen Wahlen, das kann jetzt die SPD nicht mehr gekränkt einklagen. Darüber kann jetzt offen gestritten werden. Ab jetzt ist die „soziale Gerechtigkeit“ kein kritisches Prinzip mehr, sondern verlangt nach einer alternativen Deutschlandpolitik. Das ist der Wählerauftrag.

Drei Tage Freude also: der Mantel der Geschichte, den Kohl sich angeeignet hat, ist zerschlissen. Einen nationalistischen Bonus gab es nicht, sondern einen Malus. Angstkampagne der SPD? Dieser CDU-Vorwurf ist nichts als eine Notlüge. Die Westhälfte von Deutschlandeinigvaterland hat zu rechnen begonnen. Nicht nur die DDR hat die D-Mark gewählt, sondern auch NRW und Niedersachsen. Was die CDU drüben gewann, hat sie hüben verloren. Die DDR-Wähler dürfen sich wundern. Aber: die Koalition in Ost-Berlin hat die Chance zu härteren, gleichberechtigteren Verhandlungen, weil sie mit dem sozialdemokratischen Ansprechpartner rechnen muß.

Drei Tage Freude, daß der deutsche Einheits-Haupthahn nicht mehr so krähen kann, drei Tage Freude, daß in abgefahrenen Zügen wieder nachgedacht werden darf, drei Tage Freude, daß Vernunft nicht der Einheit geopfert wird und die Deutschlandpolitik wieder offen ist. Dann aber müssen Konzepte auf den Tisch. Bislang hat die Bonner SPD außer Bedenkenträgerei und Beteiligungswünsche wenig Deutschlandpolitik gezeigt. Die Schonzeit durch die Ungnade der Geschichte ist vorbei.

Klaus Hartung