Mit der Mehrheit zur Unabhängigkeit

Ruta Kumziene, Abgeordneter der unabhängigen Kommunisten im litauischen Parlament, über Parteipolitik und Unabhängigkeit  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie beurteilen Sie die Wirkungen des Embargos, das Gorbatschow über Litauen verhängt hat. Bis jetzt schien mir die Stimmung Ihrer Landsleute eher gelassen und optimistisch?!

Ruta Kumziene: Die Auswirkungen sind - um die Wahrheit zu sagen - verheerend. Die Kaufhäuser sind leer, alle wichtigen Lebensmittel sind rationiert. Etwas Schuld trifft auch unsere Leute. Nach der Ankündigung des Embargos wurde gehamstert. In ganz Litauen gibt es kein Fahrrad zu kaufen. Noch sieht man - trotz der Benzinkontingentierung von 30 Liter pro Monat - jede Menge Autos auf den Straßen, aber nach dem 15. Mai sind wir am kritischen Punkt angelangt, an diesem Tag gehen die Benzinvorräte zur Neige. Dann wird sich erweisen, ob unser Volk moralisch auf eine Zerreißprobe vorbereitet ist.

Brazauskas, der Vorsitzende der unabhängigen kommunistischen Partei, vertritt schon länger die Ansicht, Litauen könne die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ökonomisch nicht durchhalten. Er tritt für weitgehende Kompromisse ein. Was ist Ihre Meinung?

In den zwei Jahren, die der Unabhängigkeitserklärung vorangingen, gab es eine große Diskussion über den besten Weg. Brazauskas vertrat die Linie „Schritt für Schritt“, Landsbergis wollte durch die Unabhängigkeitserklärung eine völlig neue Situation schaffen und dann verhandeln. Vom ersten Tag an sollten wir politisch ganz selbstständig handeln können, ökonomisch sollte die Verflechtung mit der Sowjetunion erhalten bleiben. In den ersten freien Wahlen hat Landsbergis sich durchgesetzt. Trotz seiner Niederlage hat Brazauskas sich nicht zurückgezogen, er wartet nicht „auf seine Stunde“. Als Stellvertreter des Ministerpräsidenten leitet er die Hilfsmaßnahmen gegen das Embargo. Wir, d.h. Brazauskas Leute tun jetzt alles uns mögliche, um der Mehrheitslinie zum Sieg zu verhelfen.

Gibt es Stimmen, die von Litauen beschlossenen aber von der Sowjetunion für ungültig erklärten Gesetze einzufrieren, eventuell sogar die Unabhängigkeitserklärung selbst?

Brazauskas fordert, mit politischen Mitteln den Knoten zu entwirren. Die Suspendierung der Wirkungen einiger Gesetze wäre vorstellbar. Es gibt auch Abgeordnete, die damit einverstanden sind, die Unabhängigkeitserklärung kurzfristig auszusetzen. Die Mehrheit ist für eine hartnäckige Verteidigung unseres Rechts auf Unabhängigkeit.

Welche politische Kräftekonstellation herrscht in der Volksfront Sajudis?

Auf dem kürzlichen Kongreß der Sajudis zeigten sich zwei Strömungen. Die eine möchte Sajudis in eine starke, national orientierte Regierungspartei verwandeln, die zweite tritt dafür ein, Sajudis als unabhängige, pluralistische, gesellschaftliche Bewegung zu erhalten. Die zweite Strömung hat die Mehrheit bekommen. Alle Menschen, Gruppen und Parteien, die für die Unabhängigkeit Litauens arbeiten, können also weiterhin Mitglied der Sajudis sein. Wir haben beschlossen, Regierungs- und Parlamentsfunktionen einerseits und Leitungsfunktionen in der Sajudis andererseits zu trennen. Landsbergis ist also nicht mehr Vorsitzender der Bewegung. Sajudis wird sich als Korrektiv verstehen, als eine Art konstruktiver Opposition, die vor allem Verletzungen der Demokratie kritisieren und den Demokratisierungsprozeß weiter vorantreiben wird.

Wird sich jetzt eine „Regierungspartei“ gründen?

Jetzt nicht. Die unterlegene Strömung bleibt in der Sajudis, will das Parteikonzept weiter entwickeln und dann erneut zur Diskussion stellen.

Sie selbst sind ja Mitglied der unabhängigen kommunistischen Partei. Was für eine Organisation ist das heute?

Unsere Partei ist fast 100 Prozent sozialdemokratisch, mit allen Schattierungen dieser Strömung. Ein paar Stalinisten, die nicht in die prosowjetische „Nachtpartei“ übergewechselt sind, gibt es auch noch. Die Frage des Namens ist taktischer Natur, nicht sehr wichtig. Litauen ist sehr klein und jeder kennt sowieso jeden. Wir haben jetzt 80.000 Mitglieder und die ganze Partei ist in voller Bewegung. Früher war die KP Staatspartei und viele Leute sind natürlich aus karrieristischen Motiven eingetreten. Die Erscheinung der „Wendehälse“ ist bei uns auch nicht unbekannt. Noch ein halbes Jahr oder ein Jahr und die Partei zerbricht in verschiedene Gruppierungen: Sozialliberale, Sozialdemokraten, Linkssozialisten. 1.000-5.000 Mitglieder pro Partei - das ist der Größe unseres Landes angemessen. Viele werden auch erklären, für dieses Leben haben sie genug von einer Parteizugehörigkeit. Ich selbst ächze auch unter der Parteiarbeit, aber jetzt ist sie noch nötig für Litauen. Früher war ich Leiter der Kulturabteilung, jetzt arbeite ich hauptsächlich im Parlament. Meiner Meinung nach sollte die Kommunistische Partei nach endgültiger Erringung der Unabhängigkeit einen Kongreß einberufen und sich auflösen. Jeder kann dann entscheiden, ob oder wie er weiter Politik machen will.

Kann die Sowjetunion auf Loyalität unter den Funktionären zählen, die stark der Kontrolle der Zentrale unterstanden, z.B. dem Sicherheitsapparat?

Die Miliz - als die Polizei - ist fast vollständig auf der Seite der Unabhängigkeit. Erstaunlicher ist, daß es auch auf den höheren Ebenen des Sicherheitsapparats wenig prosowjetische Kräfte gibt. Die Sowjetunion hat zum Beispiel einen Generalstaatsanwalt und sowjetischen Offizier geschickt - gebürtiger Litauer -, der aber seine Arbeit nicht aufnehmen kann, weil unsere Staatsanwälte jede Kooperation mit ihm ablehnen.

Wie fühlt sich jetzt die russische Minderheit in Litauen?

Die Unabhängigkeitserklärung war für sie ein schwerer Brocken. Nicht alle verstehen das und viele sind sehr beunruhigt. Es gibt die Angst, Litauen werde kapitalistisch. Die Leute wissen nicht, was der Kapitalismus ist, haben die Wochenschauen der Breschnew-Ära vor Augen, wo Schlangen von Arbeitslosen vor der Suppenküche anstehen. Sie sehen nur die „Wunden“ wir wir früher sagten. Andere glauben, sie verlieren ihren Job, werden zu Bürgern zweiter Klasse, wenn ihnen die Sowjetunion nicht mehr hilft. Wir müssen Geduld haben und Einfühlungsvermögen zeigen. Rechtlich ist die Sache klar. Alle Russen, Polen, Juden, Ukrainer, die in Litauen und unter litauischen Gesetzen leben wollen, sind dazu eingeladen. Sie sind gleichberechtigt, ihre Minderheitenrechte werden garantiert.

Was ist mit der 10-Jahresklausel?

Wer jetzt in Litauen lebt und arbeitet, kann Bürger werden. Wer neu zu uns zieht, muß zehn Jahre warten mit der Einbürgerung. Für uns ist diese Einschränkung wichtig, denn Litauen hat, wie die anderen baltischen Staaten, einen weit über dem Durchschnitt der Sowjetunion liegenden Lebensstandard.

Wie beurteilen Sie die Initiative von Kohl und Mitterand kann sie eine Hilfe für Litauen werden?

Die größte Hilfe liegt in der bloßen Tatsache, daß der Brief geschrieben wurde. 50 Jahre haben uns die westlichen Länder vergessen, wir waren nur Objekt der Geschichte. Jetzt könnte uns Kohl und Mitterand dabei helfen, daß wir als gleichberechtigter Verhandlungspartner der Sowjetunion anerkannt werden. Mehr gutes kann ich allerdings über den Brief nicht sagen. Es gibt in ihm keinerlei Zusicherung, daß Kohl und Mitterand tatsächlich als Vermittler auftreten werden. Unsere Leute verstehen ja gut, wenn Kohl sagt, bitte wartet noch ein bißchen, wir müssen erst die Wiedervereinigung unter Dach und Fach bringen. Aber wir haben 50 Jahre lang gewartet. Jetzt existiert eine einmalige historische Chance, die wir ergreifen müssen. Wir fühlen das, Argumente der Realpolitik beeindrucken uns nicht allzu sehr. Ich war in der Nacht in Berlin, als die Mauer fiel. Alles ging ganz schnell, die Menschen handelten, obwohl keine internationale Konferenz ihnen das zugestanden hatte.

Interview: Christian Semler