„...dort werden keine Punks mehr leben“

■ Was wird aus Kreuzberg? / Gespräch mit dem „berühmtesten Kommunalpolitiker der Welt“, Baustadtrat i.R. Werner Orlowsky, über die Zukunft des gallischen Dorfes / Vieles hängt ab von der Bereitschaft der Bewohner zur Verteidigung ihrer Heimat...

taz: Wie sieht der Heinrichplatz in Kreuzberg in zehn Jahren aus?

Orlowsky: Ich hoffe, daß das letzte Haus, die Oranienstraße 192, das noch nicht in Ordnung gebracht wurde, inzwischen fertig sein wird. Dann wird der ganze Platz so aussehen wie die Häuser, die jetzt schon modernisiert sind. Aber ob da noch die gleichen Leute wohnen, bezweifle ich.

Stehen die Punks dann mit der Bierdose vor Läden von Cartier und Ives St. Laurent?

Ich glaube nicht, daß da noch Punks leben werden. Bei jeder Modernisierung, auch wenn sie mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde, ist für diese Punks kein Platz mehr, weil sie die Miete nicht bezahlen können, und vor allem, weil die Eigentümer, einschließlich der landeseigenen Gesellschaften, darauf aus sind, denen möglichst nichts zu vermieten. Und wenn sie jetzt keine Verträge haben, dann haben sie auch keine Chance mehr, in die Wohnungen reinzukommen. Ich bedaure das, aber ich fürchte, so wird es werden.

Was ist das schlimmste Szenario, das Sie sich vorstellen können?

Das wäre die totale Umstrukturierung, wie die autonome Szene es nennt. Die interpretiert das, was jetzt passiert, bereits als Umstrukturierung. Für mich wäre Umstrukturierung, wenn die angestammten Bewohner weg müssen, weil die Mieten explodieren und die Schickeria einzieht.

Rollt das unaufhaltsam auf uns zu?

Das hängt davon ab, ob und wie sich unsere Volksvertreter dem Investitionsdruck des Kapitals widersetzen. Das wiederum hängt von den politischen Mehrheiten ab und nicht zuletzt davon, welche Bereitschaft die Bewohner haben, ihre Heimat zu verteidigen.

Haben Sie den Mythos Kreuzberg, sei er echt oder falsch oder kitschig, schon ganz abgeschrieben?

Ich denke heute, die gallische Dorfidylle ist nicht das, was man von einer Stadt, die auf dem Weg zur Metropole ist, noch erwarten darf. Und kitschig, na kitschig war es nicht, solange es Ausdruck des Zeitgeistes war in diesem Inseldasein der Stadt und in diesem Nischendasein des Bezirks.

Muß die türkische Gemeinde jetzt Angst haben?

Wenn es der Politik nicht gelingt, der deutlich spürbar zunehmenden Ausländerfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen, dann haben unsere türkischen Mitbürger durchaus Grund, besorgt zu sein. Das hängt vielleicht mit der Mentalität der Deutschen zusammen: schuld war immer irgendwer anders. In der Nazizeit die Juden, jetzt heißt es, die Türken oder die Polen nehmen uns die Wohnungen weg...

...für manche aus der Kreuzberger Szene sind es die Ostler...

...nicht nur für die Kreuzberger Szene, das gilt für die meisten Leute, die ich kenne... Also, so eine gewisse kleinbürgerliche Aversion gegen Fremdes, daß alles, was nicht so ist wie du und ich, mindestens verdächtig ist und gerade noch mal so gelitten, das ist eine ganz gefährliche Tendenz. Ich kann nur hoffen, daß es gelingt zu verhindern, daß diese Stimmung sich in Wahlergebnissen niederschlägt. Gottlob scheinen die „Republikaner“ ja im Moment rückläufig zu sein.

Sind die Türken nicht die ersten, die die Dummen sind?

Die haben es ja ohnehin sehr schwer gehabt, auch in Kreuzberg. Sie haben mit viel mehr Menschen in kleineren Wohnungen gewohnt, und die Hauseigentümer hatten leichteres Spiel mit ihnen. Da ist vieles versäumt worden, um von Anfang an eine wirkliche Gleichberechtigung zu erreichen. Aber in den Häusern hat es viele nachbarschaftliche Verhältnisse gegeben, zum Beispiel, daß türkische Familien eine deutsche Oma versorgt haben.

Wenn die Oma stirbt, kriegt aber heutzutage der Sohn der türkischen Nachbarn nicht mehr die Wohnung...

Ja, denn Altbauwohnungen, die nicht durch öffentliche Förderung gebunden sind, kann der Eigentümer vermieten, an wenn er will.

Wenn Sie Bausenator wären, was würden Sie tun, um dagegen anzugehen?

Die einzige Chance, dieser Entwicklung entgegenzutreten, ist, die öffentlich geförderte Modernisierung im Altbau auszuweiten und nicht abzumagern, wie es jetzt passiert. Denn da ist die Miete nur etwa anderthalbmal so hoch wie vorher.

Muß die AL Bausenator Nagel korrigieren?

Ich glaube, die AL ist dazu gar nicht mehr in der Lage. Wenn man sich ansieht, wie wenig bis jetzt von den Koalitionsvereinbarungen umgesetzt wurde, da kann auch Nagel der AL noch eine ganze Menge zumuten.

Sind Sie sauer auf Nagel?

Nein, der verfolgt nur konsequent seine Politik. Übrigens, wenn er sagt, es sind nicht genügend Mittel da für den Altbau: warum wird im Neubau produziert auf Deubel komm raus? Im Altbau kann man nutzbaren und bezahlbaren Wohnraum herstellen, so daß die ärmeren Leute in der Innenstadt wohnen bleiben können, deshalb sollte man einen Teil des Neubaugeldes auf den Altbau umschichten.

Sind Sie über Nagels Baupolitik enttäuscht?

Darüber bin ich sehr enttäuscht. Denn Rot-Grün ist ja angetreten mit dem Ziel, ökologischen Stadtumbau und sozial treffsichere Wohnungspolitik zu machen, und davon ist herzlich wenig zu spüren. (...) Was jedenfalls immer schon bei der SPD im Kopf herumspukte, ist die „gute Sozialstruktur“. Und da hat die SPD vergessen, daß es Leute gibt, die anders leben wollen und nicht dem üblichen Mittelmaß entsprechen.

Denen spukt immer noch die Planung von oben der sechziger Jahre im Kopf herum.

Ja. In der Opposition waren sie dagegen, aber jetzt sind sie an der Regierung, und da knüpfen sie wieder an, wo sie seinerzeit aufgehört haben, mit ein paar kosmetischen Veränderungen.

Wenn Sie noch ihre Drogerie in der Dresdener Straße hätten, würden Sie sich freuen über die plötzliche Nähe zur Hauptstadt?

Nein, denn solche kleinen Geschäfte sind nicht mehr zeitgemäß, da schreitet der Konzentrationsprozeß in Richtung größerer Ketten voran. Die können ja auch die Mieten bezahlen. Bei Gewerberäumen kann der Hausbesitzer verlangen, was er will. Ich weiß aus meiner Amtszeit, daß Spielhallenbesitzer an Hauseigentümer herangetreten sind und gefragt haben: „Sie, in Ihrem Haus da ist doch ein Ladenbesitzer, was zahlt denn der? Wir zahlen Ihnen das Doppelte.“ Und darauf sind die meisten Eigentümer eingegangen. Und da wird eine noch schlimmere Absahnerei stattfinden.

Das heißt, die Alternativprojekte, Werkstätten und kleinen Läden sind praktisch vogelfrei durch die neue Nähe zum Zentrum?

Das sehe ich so. Die werden sich nur solange halten können, bis der Eigentümer was Besseres hat, dann wird er die rausfeuern.

Aber auch da könnte doch der Senat gegensteuern - wenn er wollte?

Der Senat müßte unbedingt etwas machen. Die Gewerbemieten müßten gebunden werden, um die bunte Vielfalt der Läden im Straßenbild zu erhalten. Aber ich bin sehr skeptisch, ob dieser oder ein anderer Senat das machen will.

Sie sind in letzter Zeit öfter am Prenzlauer Berg gewesen. Erinnert Sie das nicht sehr stark an Kreuzberg 1980/81? Wiederholt sich die Geschichte?

Nur dem äußeren Eindruck nach. Die Leute drüben haben andere Biographien, und die Besetzer verhalten sich anders.

Die Gegend lockt ja nicht nur die Szenekids, sondern auch die ganzen Spekulantenimperien nach drüben.

Ja, das ist eine Gefahr, und das einzige, was dagegen nutzt, ist, daß das Eigentumsrecht an Grund und Boden in staatlicher Hand bleibt. Und da kann man nur raten, all das, was rechtlich unstrittig Volkseigentum ist, also das, was von der sowjetischen Militäradministration enteignet worden ist, nicht aus der Hand zu geben. Hoffentlich erreichen die Kräfte, die die Veränderung in der DDR bewirkt haben, daß dem Volk bleibt, was dem Volk gehört.

Freuen Sie sich über die Besetzungen drüben?

Als Warnschuß ist das sicher erforderlich. Denn Politiker haben da noch nie aus Einsicht in Zusammenhänge das Richtige entschieden, sondern immer nur unter Druck.

Denken Sie manchmal, daß Sie zu früh mit der Politik aufgehört haben?

Nein. Das hatte ich von Anfang an gesagt, daß nach der Wahlperiode jüngere, andere ran müssen.

Als Baustadtrat ja, aber wäre es nicht interessant gewesen, ins Abgeordnetenhaus zu gehen?

Ich weiß nicht, ob die AL das gewollt hätte. Ich habe von vornherein gesagt, ich will das nicht, weil ich gesehen habe, mit welch geringem Einfluß die Fraktion da arbeitet. Deshalb habe ich es vorgezogen, an die Basis zurückzukehren und ein bißchen Kiezpolitik zu machen im Verein SO36, in der Erneuerungskommission, im Aufsichtsrat der GEWOBAG und hier und da und in der Gruppe 9. Dezember über den Kiez hinaus.

Aber Bausenator zu werden, hätte doch Spaß gemacht?

Bausenator zu werden, hätte mich schon gereizt. Und nachdem das nichts wurde, habe ich mir gesagt: Lieber gar nichts. Das Gespräch führten Eva Schweit-

zer und Thomas Kuppinge