Liebe "junge Ökologin"!

■ betr.: "Ihr Altlinken!" von Tine Stein, taz vom 5.5.90

betr.: „Ihr Altlinken!“ von Tine Stein, taz vom 5.5.90

(...) Ich möchte Dir zunächst einmal mitteilen, daß auch ich mich von den täglichen Horrormeldungen über die Anbahnung der ökologischen Katastrophe betroffen und oft wie gelähmt fühle. Das geht wohl jedem Menschen so, der sich überhaupt damit auseinandersetzt, und insofern unterscheidet sich Deine Betroffenheit in diesem Bereich keinen Deut von meiner oder von der anderer. Dies hat auch nichts mit links oder rechts zu tun, sondern meiner Ansicht nach mit Information beziehungsweise Nichtinformation.

(...) Ich gebe zu, daß ich in den letzten Monaten betroffen war über das Tempo, mit dem die Länder des realen Sozialismus ins Lager des Kapitalismus überlaufen, und zwar deswegen, weil ich im Unterschied zur hier herrschenden Ideologie schon eine Menge sozialistischer Ideen in diesen Ländern verwirklicht sah. Hier sei nur ganz kurz das Schul und Bildungswesen sowie die Berufstätigkeit der Frau erwähnt (Letzteres ist ja wohl eher 'ne feministische denn 'ne sozialistische Idee! d.säzzern!).

Es ist wohl problematisch, in einem Land den Sozialismus gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen zu wollen, und zwar, indem man hinter die individuellen Bürgerrechte der Französischen Revolution zurückfällt. Problematisch finde ich am Tenor Deines Schreibens in dieser aktuellen Situation folgendes:

Das Zusammenbrechen der realsozialistischen Gesellschaftsmodelle wird vom Triumpfgeheul derjenigen begleitet, die dieses System immer schon bis aufs Messer bekämpft haben, sei es in Form des Kalten Krieges gegen die sozialistischen Länder konkret oder das Gedankenmodell des Sozialismus allgemein. Diesen Leuten ging es immer schon darum, das kapitalistische Modell als einzig mögliche Form des Zusammenlebens und -wirtschaftens darzustellen, und alle emanzipatorischen Ideen auszumerzen. Wem das objektiv dient, sehen wir im Moment, wo die DDR von unseren Konzernen quasi schon aufgekauft worden ist. Das ist nämlich die Freiheit, die diese Leute meinen, die Freiheit des Kapitals und des Konsums.

Du begibst Dich nun mit Deinem Brief in die Gefahr, Dich mit Leuten in ein Boot zu begeben, die wie Du (aus den genannten Gründen) den Sozialismus bekämpfen und ihn auch, wie Du, als antiquiert bezeichnen. Nicht umsonst benutzt die CDU immer den Begriff der Mottenkiste, wenn sie sich über den Sozialismus ausläßt.

Auch muß man sehen, daß diejenigen Kräfte, die die Koordinaten links und recht in der Politik für überholt, antiquiert oder überwunden bezeichnen, politisch immer rechts stehen, und mit der Verwischung politischer Positionen Klasseninteressen verschleiern wollen.

Ich gebe zwar zu, daß die real existierenden sozialistischen Länder keinen Deut mehr für den Umweltschutz getan haben als die kapitalistischen, aber Du hättest neben der UdSSR (Ackerland, Aralsee) auch Brasilien nennen können (Regenwald), das ja wohl kapitalistisch organisiert ist, und an dessen Ausbeutung auch die Bundesrepublik nicht unerheblich beteiligt ist.

(...) Wieso sollte ein chemisches Unternehmen, daß aus wirtschaftlichem Interesse heraus tätig wird, freiwillig einen teureren, umweltfreundlicheren Weg praktizieren, um gefährliche Giftstoffe loszuwerden, wenn Konkurrenzunternehmen dies nicht tun. Es wäre nicht mehr konkurrenzfähig und ginge pleite. Warum sollten die Konkurrenzunternehmen umweltfreundlicher produzieren, was ja teurer wäre und somit weniger Profit verspräche, wenn kein Staat da ist, der entsprechende Gesetze formuliert und diese dann auch noch durchsetzt?

Dies ist kein Zufall, da der Staat hier die Aufgabe hat, die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu gewährleisten und zu schützen. Das Gewährleisten einer ausreichenden Profitrate durch die Gesetzgebung verträgt sich nun einmal nicht mit einem konsequenten Umweltschutz, sondern muß diesen sogar ausschließen. Oder kennst Du einen kapitalistischen Staat, in dem Firmen nach Umweltschutzgesichtspunkten und nicht nach Profitraten wirtschaften?

Unseren Staat, die Bundesrepublik, nicht als kapitalistisch organisierte Klassengesellschaft zu bezeichnen, halte ich entweder für blauäugig oder für demagogisch. Ein Blick auf die sechs Millionen Sozialhilfeempfänger(Innen. d.sin) und drei Millionen Arbeitslosen im drittreichsten Land der Erde mögen in diesem Zusammenhang genügen.

Ein Blick in die sogenannte Dritte Welt offenbart noch viel anschaulicher das kapitalistische Prinzip der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Hier geht die Politik der US -amerikanischen, japanischen und westeuropäischen Konzerne sowie der sie unterstützenden einheimischen Diktaturcliquen täglich über Tausende von Leichen, sei es durch Hunger, Folter oder Mord an der Bevölkerung, vor allem, wenn sie sich gegen diese Verhältnisse wehrt.

Als Linker denke ich, daß das kapitalistische Systen nur funktionieren kann, solange es Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Ausbeutung der Natur durch den Menschen gibt. Sich auf die nur-ökologische Sicht zu verengen, heißt für mich, die Logik des Vernichtungssystems nicht zu verstehen. (...)

Mir leuchtet zwar ein, daß Du die Industriegesellschaft abschaffen willst, weil Dir da die westlich-kapitalistische Form als auch die schlechte Kopie der östlich -staatskapitalistischen vorschwebt. Ich allerdings kann mir durchaus eine Industriegesellschaft vorstellen, in der die Produktionsmittel in gesellschaftlichen Händen sind und nicht in privaten oder staatlichen. Mit wem möchtest Du eigentlich die Industriegesellschaft abschafffen? Mit den paar Prozent ökologisch Interessierter in der Bundesrepublik? Da braucht man doch andere Verbündete, sonst kommt man über die fünf bis zehn Prozent Wähler(Innen d.sin) für die Grünen nie hinaus. (...)

Der nur ökologische Ansatz der Gesellschaftskritik kann diejenigen Bevölkerungsschichten nicht erreichen, die täglich materiell gesehen ums Überleben kämpfen müssen und sich somit auch gar nicht individuell einschränken können. Diesen Leuten muß nur ökologisch daherkommende Gesellschaftskritik wie ein Hohn vorkommen. (...)

Du wirst mit Deiner Betroffenheit über den Zustand unserer Umwelt die große Mehrheit auf Deiner Seite haben. Trotzdem werden diese Leute weiter CDU, SPD oder FDP wählen, eben weil das Ökonomische im Bewußtsein der Menschen viel wichtiger ist als das Ökologische (siehe auch DDR -Wahlergebnisse).

Meiner Ansicht nach macht sich eine nur-ökologisch argumentierende und gesellschaftlich reformistisch eingestellte grüne Partei zunehmend überflüssig und sollte abdanken. Sie stellt keine Alternative mehr dar, weil die anderen Parteien inzwischen genauso ökologisch argumentieren wie die Grünen. Viel wichtiger wäre eine linke, ökologische Partei, nicht als staatstragende Anbiederungspartei, sondern als konsequente Opposition.

Herbert von Scheven

Tine, Deine Sorgen um die Zukunft unserer Umwelt in Ehren, ich teile sie, darum bin ich in derselben Partei wie Du. Einiges Andere an Deinem Brief kommt mir eher unverständlich vor, vielleicht, weil ich mich mit den Herren Habermas und Platon nicht so intensiv auseinandergesetzt habe, wie Du das getan zu haben scheinst.

Seltsam finde ich zum Beispiel, daß Du den Ausstieg aus der Industriegesellschaft propagierst, aber gleichzeitig die Kritikerinnen der Chemie- und Atomindustrie in Deiner Partei als Nur-Antikapitalistinnen, die von Ökologie keine Schimmer haben, diffamierst. Mit wem zusammen willst Du denn aus der lebensfeindlichen Industriegesellschaft aussteigen, wenn nicht mit den radikalen Kritikerinnen aus dem ökologischen und antikapitalistischen Lager?

Ich frage Dich, wo siehst Du im konservativen, liberalen SPD-Lager Unterstützerinnen für ein grünes Projekt, daß mehr sein soll, als eine bloße Reparaturwerkstätte für eine ansonsten unverändert Konsum manische Gesellschaft? Stammt der Begriff des Konsumterrors aus den Sechzigern und aus den Siebzigern? Ohne die von Dir so verachtete Apogeneration wäre die Kenntnis vom zerstörerischen Charakter des Massenkonsums nicht in das Bewußtsein so vieler Menschen vorgedrungen.

Warum ist es nach Ansicht so vieler Grünen auf einmal ein Makel „links“ zu sein? Weil es in der links-stalinistischen Ecke Mörder gibt, wie die verdorbenen Greise in der chinesischen Regierung? Die politischen Mörder hat es bei uns auf der Rechten gegeben, und doch distanziert sich niemand von der heutigen Rechten von dem Begriff „konservativ“.

Lassen wir uns nicht unsere links-grüne Fortschrittskritik als Ansatz für eine soziale und ökologische Gesellschaftspolitik nehmen. Wenn wir von Zukunft sprechen, dann sprechen wir auch von der Zukunft der hier lebenden Ausländerinnen, denen die selbstverständlichsten bürgerlichen Rechte vorenthalten werden, wir sprechen von den Menschen in der sogenannten Dritten Welt, die für unseren Luxus schuften, und sagen Ausbeutung, weil das die Realität ist, und nicht, weil wir in unseren linken Wortschatz verliebt sind.

Wird unser geliebtes grünes Projekt drei seiner vier Grundprinzipien verlieren, die da waren: ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei, weil sich unsere 100 -Prozent-Ökos aus allen anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausklinken wollen? Die Menschen aus der DDR sind vor dem sie gängelnden Scheinsozialismus geflohen. Wohin werden wir fliehen, wenn der Kapitalismus mit seinem Primat des Profits unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört hat?

Claudia Vierling, 20, KV Bonn, Die Grünen

Eine „junge Ökologin“ möchte „in Ruhe gelassen werden“, damit sie das von ihr mit Alleinvertretungsanspruch vereinnahmte „grüne Projekt“ voranbringen kann. Offenbar wird sie dabei gestört, von Linken, die jetzt diffamierend „Altlinke“ genannt werden. Welche von Tine Stein initiierte oder unterstützte ökologische Aktivität be- oder verhindert worden ist, erfahren wir nicht.

Den „Verzicht von einzelnen“ hält sie für nötig. D'accord. Aber sind es etwa nur die „Altlinken“, die Auto statt Bahn fahren, die billig im Supermarkt einkaufen statt im Bioladen, die Diäten nicht an den Ökofonds abführen, sondern sonstwie verbraten?

Und warum sollen sich eigentlich Konsumverzicht und Kapitalismuskritik ausschließen? Ist es etwa nicht die Lobby von Bayer, Hoechst und BASF, die ein Produktionsverbot für Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) hierzulande bis heute zu verhindern wußte? Obwohl die täglich das Ozonloch weiter aufreißen? (...)

Und müßte der Verzicht nicht dort zu allererst eingeklagt werden, wo am meisten verbraucht wird - bei den Reichen? Es sind weder die SozialhilfeempfängerInnen noch die ArbeiterInnen, die im Dezember Erdbeeren aus Kenia schmausen oder täglich mit Privatjets oder auch bloß Inlandsflügen den Himmel verpesten. (...)

Wo das Primat der Profitmaximierung gilt, hat die Ökologie das Nachsehen. Das ist es, was die Linken nach wie vor zu sagen wagen - trotz des berechtigten Zusammenbruchs der real existierenden „Sozialismen“, deren Anhänger wir nie gewesen sind. Vielmehr haben wir, gerade weil wir den guten alten Marx im Zeichen der Umweltkatastrophe neu durchdacht haben, die Grünen mitgegründet, aus denen uns jetzt „junge Ökologinnen und Ökologen“ rausekeln wollen.

Tine Stein gehört zum „Aufbruch“. Sie macht sich zum Sprachrohr einer Strategie, die Antje Vollmer vor einem Jahr mit der Parole „Stürmt das Hauptquartier“ begonnen hat. Nachdem sie erfolgreich die Abwahl des Vorstands betrieben hatte, hat sie nun beschlossen, die Linken überhaupt aus den Grünen auszutilgen. Die BDK im Juni ist der Stichtag, dann soll „reiner Tisch“ gemacht werden. (...)

Ariane Dettloff, Mitglied der Partei Die Grünen, Köln

Die Polarisierung von „links“ und „ökologisch“ ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich halt dafür, daß es immer noch zweckmäßig ist, die berühmten versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, und vor allem, die Ketten zu brechen, statt Blumen auf sie zu stecken, wie Röschen und Nelklein im (klein)bürgerlichen Kinderliedchen.

Daß der Generation der „jungen Ökologin“ solche Kinderlieder erspart geblieben sind, während sich die Generation der „Altlinken“ viel Schlimmers noch anhören mußte, sondern mit Songs von Grips-Theater und Rote Grütze sozialisiert wurde und damit rechtzeitig die Aufmüpfigkeit lernen konnte, verdankt sie doch den „Altlinken“, vor allen Dingen den altlinken Frauen.

Die neue feministische Bewegung ist ein Kind der Apofrauen und ohne die Apo überhaupt gäbe es auch keine ökologische Bewegung.

Schön und gut, wir sind traurig, daß das Modell Sozialismus obsolet zu werden droht; aber nicht weil uns etwa Natur nicht interessiert, sondern weil offenbar nicht nur die Rechten, gegen die wir uns immer vehement gewehrt haben, uns den Marx immer schon in den Giftschrank stellen wollten und wollen, sondern weil nun ganz „allgemein“ der Marx auf der Giftmülldeponie entsorgt werden soll.

Die Gedanken von uns „Altlinken“ sind nicht bloß 19. Jahrhundert - so sinnvoll es auch ist historisch zu denken, sogar noch ein paar Jahrtausende weiter zurück, denn Geschichte war eben immer schon eine Geschichte von Klassenkämpfen - es hat auch nach der Niederschrift von Marxens Kapital Frauen und Männer gegeben, deren Denkansätze und -Handlungen wir studierten und mit Leben erfüllten.

Bei allen Generationskonflikten - bitte mehr Dialektik!

Johanna Gottschalk-Scheibenpflug, Frankfurt

(...) Werte Tine Stein, vor der Therapie steht nun einmal die Diagnose, und dies bleibt auch dann noch richtig, wenn früher, an anderen Orten, die gleiche Krankheit falsch diagnostiziert und deshalb falsch therapiert wurde.

Eines solltest Du, und vor allem Dein Forum, die taz, zur Kenntnis nehmen: Die Forderung nach einer ökologischen Selbstbegrenzung, die wesentlich Dein „Grünes Projekt“ definiert, ist solange überheblich-esoterische Wohlstandsträumerei, solange das gesellschaftliche Zusammenleben auf der Basis des Waren-Charakters der Arbeit beruht, und damit der Einzelne seine Reproduktion nur realisieren kann, wenn er sich den Maschinen anpaßt, die ihm nicht gehören, und er folglich die Entfremdung seiner Lebenszusammenhänge nur erträgt, indem er durch einen sich ständig steigenden Konsum eine Kompensation dieser dauernden Ausbeutung seiner selbst „erkauft“, wozu doch die Entwicklung der DDR das augenfälligste Anschauungsmaterial liefert. Auch „wenn wir so anders sind“, die Alternative, der Rückzug in die Nestwärme provinzieller Ökologiediskurse (aber bitte „herrschaftsfrei“, gell, Onkel Habermas!) ist letztendlich das gleiche Kompensationsverhalten, das andernorts verdammt wird.

Natürlich, liebe taz-Tine, bekomme ich keine Pickel, wenn ich morgens vor dem Spiegel laut vor mich hin brabbele: „Ich bin kein Linker.“ Und natürlich laufe ich dann grün an, wie Du prognostizierst, aber nur weil mir auf einmal kotzübel geworden ist.

Georg Linke, Berlin