Der Imperialismus wird zu teuer

■ Mit Peter Ruben, einem in der DDR lebenden marxistischen Philosophen sprachen Barbara Grüter und Wolfgang Milszus

Was hältst du von der verbreiteten These, das Ende des „real existierenden Sozialismus“ sei das „Ende der Geschichte“, nun könne sich der Kapitalismus ungestört entfalten?

Das ist eine depressive Suggestion - das Ende der Geschichte, das ist reiner Blödsinn. Was wirklich der Fall ist, wenn man Entwicklungstheorie im Sinne von Schumpeter, Kondratieff und von Marx akzeptiert, was innerhalb der Legionen von Ökonomen durchaus nicht so problematisch ist, dann ist klar, daß wir es mit zyklischen Entwicklungen zu tun haben; wir können Epochen unterscheiden. Was wir wirklich haben, ist das Ende der Epoche, die durch die französische Revolution eröffnet ist, das Zeitalter der industriellen Revolution.

Das, was in dieser Epoche zur Debatte gestellt worden ist, nämlich Kommunismus als Lösung der sozialen Frage, ist ja nicht eine Erfindung etwa von Stalin oder Lenin und noch einmal von Marx. Einer der ersten Theoretiker auf diesem Gebiet ist Herr Fichte, ein deutscher Philosoph par excellence: Wenn man den Geschlossenen Handelsstaat liest, dann wird man überrascht sein, wie genau er das Wirtschaftsmodell der DDR vorstellt, bis hin zum Außenhandelsmonopol oder der Binnenwährung.

Das ist also nicht etwa bloß eine Übernahme des sowjetischen Modells, sondern ein Ausleben, Ausprobieren der deutschen kommunistischen und sozialistischen Tradition, die mit Müntzer in der Moderne anfängt. Das sind alles Dinge, die verschüttet sind, wahrscheinlich auch für taz-Leser.

Der Kernpunkt ist dies: Man kann dem Marx alles mögliche anlasten, aber eins nicht - die Marx'sche Position der Emanzipation der Arbeiterklasse besteht nicht darin, die Klassenherrschaft zu heiligen oder von der historischen Mission der Arbeiterklasse zu reden, die durch eine Partei realisiert wird, sie ist vielmehr immer verbunden gewesen mit der Emanzipation der Person. Dies ist von der modernen kommunistischen Bewegung im Gefolge der Oktoberrevoltion geleugnet oder gar nicht wahrgenommen worden.

Unter Sozialismus wird - im klassischen Verständnis der Arbeiterbewegung - die Lösung der sozialen Frage verstanden. Warum existiert die soziale Frage? Sie existiert deshalb, weil das Privateigentum zusammenfällt mit der Eigentumslosigkeit der Arbeiter. Und die Eigentumslosigkeit der Arbeiter ist die Grundlage des Elends. Wie kann man also die soziale Frage lösen?

Indem man das Gemeineigentum an Produktions- und Arbeitsmitteln herstellt. Ob die Sozialdemokratie es nun Sozialisierung nennt oder die kommunistische Fraktion der Arbeiterbewegung das Gemeineigentum realisiert und es als Staatseigentum politisch dominiert, das sind verschiedene Lösungen der einen ursprünglichen Frage. Nun ist aufgrund unserer Erfahrungen festzustellen, daß die Realisierung des Gemeineigentums als Staatseigentum gerade den Ausschluß des Marktes bedeutet und das nenne ich mit Marx den „rohen Kommunismus“.

Im „rohen Kommunismus“ werden alle Betriebe der Volkswirtschaft in Teile eines großen Betriebes verwandelt, der Austausch wird rausgeschmissen und unter Verdacht gestellt, als „arge Profitwirtschaft“, und damit ist klar, daß der Staat nunmehr den Individuen in seinem eigenen Land gegenübertritt als Produzent, als Anbieter und die Individuen ihm gegenüber als Konsumenten, die entscheiden, was sie von der Staatsproduktion wollen oder nicht.

Ein doppeltes „Wachstum“ ist die logische Konsequenz: einerseits Wachsen der unabsetzbaren Produkte - also „Ausschuß“ - und andererseits einer Geldmenge, die gezahlt wird, für die man aber nichts kaufen kann, d.h. Anwachsen der Sparguthaben. Diese rohkommunistische Staatswirtschaft hat den Kardinalfehler: indem sie nämlich die Person totschlägt und in den Funktionär verwandelt, läßt sie keine Innovation zu und schließt damit die Entwicklung der Volkswirtschaft aus. Diese Staatswirtschaft richtete sich immer auf Erhaltung des Bestehenden und mußte daher zunehmend wettbewerbsunfähig werden.

Der Sozialismus ist also nicht gescheitert, sondern das Problem in Bezug auf den Sozialismus als Lösung der sozialen Frage steht nun neu: Wie halten wir es mit der Innovationsrolle der Person unter Voraussetzung des Gemeineigentums?

Das heißt - ökonomisch einfach gesagt - welche Funktion hat der persönliche Unternehmer, wenn er die Quelle der Entwicklungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist und das ist er, das ist unsere Erfahrung.

Wie ist denn der Unternehmer als Privateigentümer unter der Voraussetzung des Gemeineigentums vorstellbar?

Bei Schumpeter gibt es eine genaue und schöne Unterscheidung zwischen dem Kapitalisten und dem Unternehmer, die den historischen Kern sehr gut trifft. Schumpeter stellt die Frage, die Marx so noch nicht stellen konnte: Wie kann jemand, der eigentumslos ist, Unternehmer werden?

Unternehmer zu sein ist nicht der Zustand des Vermögensbesitzers - im klassischen Sinn des Kapitalismus -, sondern Unternehmer sein heißt, eine Rolle zu übernehmen in der Innovation. Das Kapital ist das Verhältnis, das der Kapitalist zu seinen Produktionsbedingungen, unter der Voraussetzung persönlichen Geldeinsatzes, hat. Du bist nicht dann Kapitalist, wenn du Unternehmer bist - dann bist du Schuldner.

Schumpeter sagt, „auf seinen Schulden reitet der Unternehmer zum Erfolg“. Und wenn du Schulden hast und realisierst das Unternehmen so, daß aus dem Erlös nun auch für dich etwas abfällt, was du dann wieder in der Kapitalbildung realisieren kannst, dann verwandelst du dich in einen Kapitalisten.

Du bist als Unternehmer Funktionsträger des Fortschritts. Und wenn er passiert ist, dann hörst du auf, das zu sein und verwandelst dich in den gewöhnlichen Kapitaleigner, der von der Dividende lebt. Wenn es gut geht.

Das Motiv des Unternehmers ist also die Innovation, während den Kapitalisten der Profit treibt?

Das ist der Punkt. Für mich ist ganz plausibel geworden durch mein Dasein auf dem Bau, daß die Linken vergessen, was das Motiv des Unternehmers ist. Das wirkliche Motiv in der unternehmerischen Gestaltung ist die Veränderung der Bedingungen der Produktion - ein „Werk zu schaffen“.

Den Unternehmer interessiert der Gewinn dabei gar nicht so sehr wie die Tatsache, daß er was getan hat für die physische Veränderung unserer Arbeitsbedingungen. Das ist es, was man lernen muß: die Natur der konkreten Arbeit in den Augen des Unternehmers wahrzunehmen.

Wir denken die Arbeit immer nur abstrakt. Wenn ich sage, er ist profitorientiert, dann habe ich nur die abstrakte Arbeit im Kopf. Wenn ich ihn aber als konkreten Arbeiter oder als Organisator konkreter Arbeit denke, steht zunächst überhaupt nicht das Profitmotiv zur Debatte, sondern das Problem der materiellen Gestaltung neuer Produkte.

Die eigentlich entscheidende Frage für die Linke ist, ob sie nicht den Fehler macht, wirtschaftliche Rationalität schlechthin als Kapitalismus zu identifizieren.

Wie kann man den Übergang vom Unternehmer zum Kapitalisten ausschließen?

Ich gehe von Marx aus und die Marx‘ sche Position lautet: Das Kapitaleigentum setzt als notwendige Bedingung das private Landeigentum voraus. Wenn dies nicht da ist, so kann man nicht von Kapitalverhältnis sprechen. Kapitaleigentum und persönliches Landeigentum sind zwei einander bedingende Verhältnisse.

Daher meine These: vorausgesetzt das Gemeineigentum an den Naturbedingungen der Produktion existiert, dann ist per logischer Folgerung aus der Theorie von Marx klar, alles, was an Unternehmertum dann existiert, kann unter dieser Voraussetzung nicht zum Kapitalismus führen, weil das private Landeigentum ausgeschlossen ist.

Es geht doch bereits im Kapitalismus darum, daß effektiv das Gemeineigentum an den Naturbedingungen der Arbeit hergestellt wird; obwohl es formell noch gar nicht da ist de facto existiert es mit der Subvention, die ja praktisch die Regeln des bloß privaten Austausches durchbricht.

Die Naturbedingungen der menschlichen Existenz müssen ja erhalten werden, also zahlt die Industrie bereits jetzt die Subventionen. Der Bauer wird als Naturerhalter subventioniert - in der Zukunft und tendenziell heute schon.

Bei euch werden die Bauern schon mit dreißig Prozent ihres Einkommens subventioniert, würden sie den Gesetzen des Marktes überlassen, wären sie alle weg. Für unsere Perspektive hier in der DDR ist es entscheidend, ob es gelingt, das Gemeineigentum an Grund und Boden zu sichern. Die persönliche oder genossenschaftliche Bodennutzung beruhte dann auf dem Pachtverhältnis.

Sind diese Perspektiven für die DDR nicht illusionär? Ist dieser Zug nicht wirklich längst abgefahren?

Im Moment scheint es so, ja, im Moment scheint es so. Aber ich glaube, daß das Schwergewicht in der DDR in bezug auf die Bewahrung dessen, was bewahrbar ist, viel größer ist, als es im Moment auszusehen scheint. Wir haben im Moment eine Situation, daß es in dieser Welt keinen demokratischeren Staat gibt als die DDR.

Und jetzt möchte ich gerne wissen, ob die Bürger, die diesen Kampf geführt haben gegen eine furchtbare Repressionsgewalt, morgen bereit sind, die gewöhnliche patriarchalische Demokratie der CDU zu akzeptieren. Die DDR hat ja auch eine reelle ökonomische Substanz, die sie als Bedingung in den Prozeß einbringt.

Wir haben eine Landwirtschaft, die sehr wohl entwickelt ist. Von einigen Kombinaten sagen unsere Ökonomen, daß sie international konkurrenzfähig sind, viele können saniert werden und andere können wir ganz abschreiben.

Es ist eine ausgesprochen disproportionierte Situation in der Wirtschaft. Und natürlich sind wir vom Standpunkt der Entwicklungstheorie der Weltwirtschaft in einer Situation, wo wir langsam vor der Liquidation der Depressionsphase stehen, also Einlauf in die Erholungsphase des Kondratieff -Zyklus. Das heißt, daß die Chance, daß hier die Möglichkeit besteht, so etwas wie ein Wirtschaftswunder hervorbringen, wirklich da ist.

Hältst du eine sozialistische Alternative noch immer für realistisch?

Ich will's mal so sagen: Die sozialistische Alternative als bloß lokale Alternative wird im Sinne der Marx‘ schen Theorie gewiß nicht sein. Aber, was ich meine, ist: Durch die Entwicklung der DDR wird das Sozialismusproblem universalisiert. Es wird auch ein deutsches Problem sein, und nicht nur ein deutsches, sondern es wird auch ein europäisches Problem sein. Die soziale Frage ist eine universelle Frage geworden.

Das Problem ist, daß wir lernen müssen, daß man diese Frage nicht durch den bloß politischen Akt der Enteignung lösen kann, sondern durch eine Entwicklung der Wirtschaft, in der die wirtschaftliche Leistung da ist, um die Lebenserhaltung der Menschen wirklich zu sichern.

Wir haben ja mit dem rohen Kommunismus die soziale Frage reproduziert. Wenn ich heute sehe, wie die Arbeiter in den Bergbaugebieten in der SU leben, das ist ja furchtbar. Was ist das für eine Lösung der sozialen Frage, wenn die Leute nicht anständig leben?

Welche Eingriffsmöglichkeiten bieten sich denn derzeit für Intellektuelle? Wir haben den Eindruck, daß sie zur Zeit stark kritisiert werden, von außen sowieso, und von innen als frühere Parasiten, die still gehalten haben.

Ja, das muß man sehen, die Wissenschaft ist erstmal diskreditiert. Die Herstellung des rohen Kommunismus hat für die Wissenschaft, insbesondere für die Gesellschaftswissenschaft, verheerende Folgen. Die entsprechende Entscheidung ist bereits in den zwanziger Jahren, endgültig 1930 in der Sowjetunion gefallen, mit der Liquidation der ökonomischen Wissenschaft und zwar so, daß mein lieber Kondratieff und andere ins Lager gingen.

Die Wissenschaft wurde liquidiert, und zugleich hat man das Problem, daß die Wissenschaft in Gestalt der Institute, die ja da sind, potentiell, immer erhalten wurde, aber sie konnte gesellschaftlich nicht wirksam werden. Bei uns in der DDR wurde sie nun - obendrein gestützt durch den Abgang vieler Wissenschaftler - so stark dem Parteiapparat unterworfen, daß jetzt gar nicht mehr klar ist, was ist eigentlich Wissenschaft und was ist Ideologie.

Die verbliebenen Wissenschaftler und die Parteileute sind eine Symbiose eingegangen, die die Reproduktion feudaler Strukturen bedeutet hat. Unser Problem gegenwärtig ist, daß es wieder zu einer Autonomie der wissenschaftlichen Produktion kommt.

Nun reden wir auch bei uns von einer Krise der Sozialwissenschaften und diese Feudalstrukturen in den wissenschaftlichen „Schulen“ und Seilschaften lassen sich ja bei uns auch finden. Aber es war nicht der politische Apparat, der das hervorgebracht hat. Wie erklärst du dir das?

Ganz einfach, über die berühmte „Lange-Wellen„-Theorie von Kondratieff. Wir stehen doch in ein und derselben Welt: die „soziale Marktwirtschaft“ in Westdeutschland ist die Antwort auf die Durchsetzung dieses rohen Kommunismus im Osten. Die Konfrontation von Kapital und Arbeit im Sinne der Konfrontation von Kommunisimus und Imperialismus ist historisch erledigt, d.h. der Imperialismus geht in den Konkurs. Die ökonomische Entwicklung läßt die Organisation der Volkswirtschaften in dem Sinne, daß sie durch Kolonialisierungsakte zu Provinzen eines Reiches gemacht werden, nicht mehr zu.

Der Imperialismus wird zu teuer, sowohl der kapitalistische wie der kommunistische. Und dann hört die dies System international stabilisierende Ideologie auf und damit hört auch das Herrschen der Ideologie in den Köpfen der Sozialwissenschaftler auf. Im Moment zerfällt alles und du hast eine ausgesprchen depressive Situation. Ist es dann ein Wunder, daß sich uns die gleichen Fragen stellen unter verschiedenen konkreten, lokalen Bedinungen? Die Sozialwissenschaft geht in die Krise, weil das ideologische Zeitalter kaputt geht.

Meine Annahme ist, daß wir in einer ähnlichen Situation sind wie am Ende des Zeitalters der Religionskriege, die ja auch Klassenkämpfe waren, wo es ja um die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft - unter religiöser Fahne - ging. Dann steht die Aufklärung eines Tages auf und findet, was der Lutheraner, der Calvinist und der Katholik sagen, ist alles Quatsch, jetzt geht's um die Erkenntnis der Natur und die Emanzipation der Person. Womit die Sozialtheorie nun konfrontiert ist: Es geht um die Erkenntnis der Gesellschaft, in der bisher der politische Kampf dominiert hat, von der Ideologisierung aller sozialtheoretischen Fragen begleitet.

Sie hat ihre Vorstellungen zu großen Teilen ja ideologisch formuliert - ob nun wie Carl Schmitt von der rechten Position aus oder von links die Ideologierung von Karl Marx. Das ideologische Zeitalter bricht zusammen, und das erleben wir beiderseits der Mauer. Auch die derzeitigen fundamentalistischen Strömungen sind Ausdruck der gegenwärtigen Depressionsphase.

Auch diese Strömungen sind - wenn sie progressiv auftreten

-Emanzipationsakte gegen imperialistische Unterwerfung. Die Aserbeidschaner oder Litauer z.B. wenden sich gegen die Unterdrückung durch Moskau, das ihnen die rohkommunistische Ideologie anbietet oder aufdrängt. Daher wenden sie sich gegen diese Ideologie ideologisch und greifen nach fundamentalistischen Ersatzideologien, ob sie nun religiös oder nationalistisch verbrämt sind. Das sind Artikulationen des Zusammenbruchs der alten imperialen Struktur.

Die Alternative ist: Wir bringen uns mit unseren militärischen Potentialen um oder wir werden vernünftig, d.h. wir brauchen die Aufklärung. Und daß bei euch das Mißtrauen gegenüber der Aufklärung derzeit Konjunktur hat, ist für mich eine unmittelbare Reflexion der Depressionslage, in der wir uns seit 1980 befinden.

Die fundamentale weltwirtschaftliche Hauptentscheidung ist, daß sich der rohe Kommunismus ökonomisch nicht mehr halten kann. In dieser Situation tritt aus der Depression auch ein Krisenempfinden hervor.

Ich rechne aber mit einem großen theoretischen Schub in der kommenden Erholungsphase. Wenn die Depression in der Herstellung eines neuen ökonomischen Gleichgewichts endet, dann ist der Druck auf sozialökonomische Neuerungen so stark und zugleich die Bereitschaft der Rezeption so groß, daß die Chance einer neuen Prosperitätsphase eintritt. Dann hast du im Regelfall einen deutlichen Aufschwung im Erfindungs- und Entdeckungspotential bei den sogenannten Basisinnovationen.