„Viele haben geweint - wir verstehen sie“

Symbolischer Hungerstreik zur Erinnerung an das Massaker in Peking vor einem Jahr / Erste Solidaritätsaktion Moskauer StudentInnen / Grundlegende Reformen in China und der Sowjetunion gefordert  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Von Samstag abend bis in die Nacht des Sonntag hinein führten in der Moskauer Staatlichen Universität rund 200 StudentInnen zum Gedenken an das Schicksal ihrer chinesischen KommilitonInnen auf dem Tien-an-Men-Platz vor einem Jahr einen Hungerstreik durch.

Parallelaktionen fanden in 20 ukrainischen Städten, in den drei baltischen Hauptstädten, in Tbilissi und Jerewan, Leningrad, Nowosibirsk, Swerdlowsk und Kursk statt.

Für die Sowjetunion, in der die Studentenschaft im Unterschied zu China oder den Ländern Ostmitteleuropas bisher eher politisch passiv blieb, könnte diese Aktion die erste Schwalbe bedeuten, die den Beginn einer neuen Studentenbewegung aufzeigt.

Auf der Demonstration in Moskau wurden unter anderem der Rücktritt der gegenwärtigen sowjetischen Regierung sowie ein neuer Unionsvertrag auf der Basis souveräner Staaten gefordert.

Mit weißen Stirnbinden nach chinesischem Vorbild zeigten die StudentInnen, die die Aktion durchführten, ihre Trauer, und viele dieser Binden trugen auch das chinesische Trauer -Schriftzeichen. Andere waren verändert worden, zum Beispiel mit dem „Solidarnosc„-Emblem, dem klassischen Spruch „Für eure und unsere Freiheit“ oder einfach dem Ausruf: „Mami!“.

An den für offizielle Feierlichkeiten vorgesehenen Fahnenmasten vor der kilometerlangen Fassade des Universitätswolkenkratzers prangten ein chinesischer Trauerwimpel sowie die blau-weiß-schwarze alte russische Fahne. Eine Art Gedenkstätte mit Kerzen und den um diese Zeit in Moskau noch sündhaft teuren Tulpen und Vergißmeinnicht umgaben Stelltafeln: Chinesische Wimpel und das Porträt eines chinesischen Studenten.

Trotz kaltgefrorener Knochen war die Stimmung euphorisch, als am Sonntag abend eine Gruppe von Abgeordneten die StudentInnen besuchte.

Die Träger bekannter Namen aus der oppositionellen „Überregionalen Deputiertengruppe“ des obersten Sowjets und der Fraktion „Demokratisches Rußland“ des Moskauer Stadtsowjet wurden mit Applaus empfangen. „Seid ihr auf unserer Seite?“

Dann wird gefragt: „Wer von euch hat die Solidaritätserklärung mit Litauen unterschrieben?“ Beifall bei der Namensnennung. „Wo bleibt die neue Zeitung des Mossowjet?“ Und eine Frage, die vor allem die jungen Männer beunruhigt: „Was wird mit den Wehrdienstverweigerern in Litauen geschehen?“

Schamil Mikejew, Leutnant der Roten Armee und Abgeordneter des Mossowjet muß besonders viele Fragen beantworten. „Es gibt in der Armee mehr Demokraten als der Öffentlichkeit bekannt ist. Wir haben gerade ein Komitee zur Entmilitarisierung der Stadt Moskau gegründet“, versichert er. „Heißt das etwa, daß Ihr alle auf unserer Seite seid?“, kommt unter Gelächter die Rückfrage.

„Das Aufgebot von Schwerbewaffneten anläßlich des 1. Mai und der Präsidialerlaß, der das Moskauer Zentrum für Demonstrationen sperrt, machen uns keine Angst“, erklärt ein Vertreter des Organisationskomittes anschließend der taz.

Der Plan zu dieser Aktion wurde Anfang Februar gefaßt. Damals fand eine überregionale Studentenkonferenz zum Andenken an Andrej Sacharow statt, der sich auch an dem Moskauer „Demokratischen Studentenklub“ beteiligt hatte.

„In China und der Sowjetunion sind im wesentlichen die gleichen Aufgaben zu lösen. Es wäre illusionär über Hochschulautonomie oder eine Reform des Bildungswesens zu sprechen, solange die Gesellschaft nicht grundlegend reformiert ist“, meint ein Student.

Und wie haben sich die chinesischen KommilitonInnen zu der Aktion verhalten? „Das war eine sehr traurige Erfahrung!“, erzählt ein Mädchen: „Tagsüber haben sie sich nicht einmal in unsere Nähe getraut, aber nachts sind sie zu Dutzenden gekommen und haben uns gedankt. Viele haben geweint. Wir können sie verstehen.“