Fluchtpunkt Bahnhof Lichtenberg

■ Über 3.000 Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien sind bislang in die DDR gekommen

Berlin (taz) - Gestern morgen, 6.10 Uhr, Bahnhof Lichtenberg in Ost-Berlin. Der D 372 aus Bukarest rollt ein. Als der Zug wieder anfährt, drängen sich über 600 Menschen auf dem Bahnsteig - nicht ihre Reise ist hier zu Ende, sondern ihre Flucht aus Rumänien. Die meisten von ihnen verbringen die Nacht in den Warte- und Schalterhallen.

Auf die Schnelle Unterkünfte für die Menschen zu beschaffen, bereitet der Ostberliner Verwaltung seit Wochen Kopfzerbrechen. Die soziale Infrastruktur aus kirchlichen Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden existiert nicht. Eine Turnhalle erwies sich bald als zu klein, Ende April wurden die Flüchtlinge in eine Kaserne der Nationalen Volksarmee (NVA) einquartiert. Dort werden sie von Offizieren, MitarbeiterInnen des Roten Kreuzes und des Magistrats versorgt. Die Aufnahmekapazität der Kaserne ist mit über 1.000 Menschen längst erschöpft. Die Turnhalle mußte wieder belegt werden, nach weiteren Notunterkünften wird verzweifelt gesucht.

Auf rund 3.000 schätzt die Ostberliner Ausländerbeauftragte Anetta Kahane die Zahl der Menschen, die seit Oktober aus Rumänien und Bulgarien in die DDR gekommen sind. Anfangs waren es nur einzelne, dann kamen täglich 40 bis 70, jetzt sind es mehrere Hundert. Seit gestern kursieren unbestätigte Informationen der rumänischen Grenzbehörden, wonach 15.000 Rumänen auf dem Weg in die DDR seien. Die meisten der Flüchtlinge sind Roma, ein kleinerer Teil deutschstämmige Rumänen. Manche wollen weiter in den Westen, einige wenige haben einen Antrag auf ständigen Wohnsitz in der DDR gestellt. Sie treffen meist in einem erbärmlichen Gesundheitszustand ein. In einigen Fällen mußten Ärzte Schußwunden behandeln. „Das Mißtrauen ist ungemein groß“, sagt der zuständige Referatsleiter für öffentliche soziale Dienste beim Magistrat, Joachim Karbs. „Die meisten weigern sich, überhaupt in ein Krankenhaus zu gehen.“

Viele haben das Land angesichts zunehmender Übergriffe auf ethnische Minderheiten verlassen. Die Angst geht um, die rumänische Regierung könne die Grenzen wieder schließen. Die „Vatra Romaneasca“ (dtsch.: Rumänische Heimstätte), eine nationalistische Bewegung, tritt lautstark für die Abschaffung aller Minderheitenrechte ein. Neben den deutschstämmigen Rumänen und der ungarischen Minderheit sind die Roma die Hauptzielscheibe dieser nationalistischen Agitation.

Regierung und Magistrat in Ost-Berlin rechnen mit weiteren Flüchtlingen. Eine gemeinsame Kommission mit VertreterInnen verschiednerer Ministerien, des Magistrats und der Ausländerbeauftragten wurde eingesetzt, um „Lösungen“ zu erarbeiten. Es gibt in er DDR (noch) kein Asylrecht, ebenso wenig ein Ausländergesetz. Im Büro der Ausländerbeauftragten befürchtet man, daß bei der gegenwärtig ausländerfeindlichen Stimmung in der DDR im Fall der rumänischen Flüchtlinge restriktive Fakten geschaffen werden sollen. DDR -Innenminister Diestel zog bereits Ende April eine Einschränkung der Visumsfreiheit für Rumänen in Erwägung. Im Außenministerium winkt man dagegen energisch ab. An eine Verschärfung der Visaregelungen sei nicht gedacht, erklärte gestern ein Vertreter aus dem Hause Meckel. „Wer selbst frei reisen kann“, sagt die Ausländerbeauftragte Anetta Kahane, „der muß damit rechnen, daß Reisende kommen.“

Mit solchen Einsichten wollen sich viele AnwohnerInnen der NVA-Kaserne in Biesdorf nicht abgeben. Der Hinweis, daß bei der letzten Massenflucht im letzten Sommer die Hilfe Ungarns und internationaler organisationen gern von DDR-BürgerInnen in Ansrpuch genommen worden sind, fruchtet wenig. „Die sollen sie nach Hause schicken“, erklärt unisono eine Familie aus der Nachbarschaft. „Nur Lärm und Dreck, und dauernd wollen sie Geld. Uns hat doch auch keiner was geschenkt.“

Andrea Böhm