Schlappe für DDR-Innenminister Diestel

■ Keine Einreisebeschränkung für Rumänen / Gestern wieder 700 Neuankömmlinge in Ost-Berlin / Ausländerbeauftragte startet Hilferuf

Ost-Berlin. Vorerst keine Einreisebeschränkungen für Rumänen in die DDR - das ist das Ergebnis einer mehrstündigen Sondersitzung mit VertreterInnen verschiedener DDR -Ministerien, des Ostberliner Magistrats und der Ausländerbeauftragten der DDR, Almuth Berger, sowie Ost -Berlins, Anetta Kahane. Nach Angaben von Kahane hatte DDR -Innenminister Diestel durch einen Mitarbeiter vorschlagen lassen, Rumänen zukünftig nur noch auf Einladung von DDR -BürgerInnen einreisen zu lassen. Der Vorschlag wurde abgelehnt.

Gestern trafen wieder rund 700 Rumänen per Zug in Ost -Berlin ein, womit sich ihre Zahl auf über 2.000 erhöht. Zahlreiche Flüchtlinge mußten auf dem Bahnhof übernachten. Nach Angaben der Westberliner Sozialverwaltung ist in den letzten Wochen die Zahl rumänischer Asylantragsteller gestiegen. In den ersten beiden Maiwochen hätten 781 Rumänen Asyl beantragt, die meisten von ihnen sind Roma und Sinti. Im April seien es 559, im März 240 gewesen.

Das bislang einzige Aufnahmelager in Ost-Berlin, eine Kaserne der NVA, ist mit über 1.000 Flüchtlingen inzwischen überfüllt. Die Armeelaster und Panzer hat in der letzten Zeit keiner mehr angerührt, aus den Kasernenfenstern hängt Kinderwäsche zum Trocknen. „Meisterhafte Beherrschung der Kampftechnik - Voraussetzung für den Sieg im Gefecht.“ Der Slogan aus realsozialistischen Zeiten prangt am Eingang zum Fuhrpark. Die Beherrscher der Kampftechnik sind längst verschwunden: als die Soldaten der NVA vor wenigen Wochen zwischen Zivil- und Wehrdienst wählen durften, entschieden sich die meisten in der Biesdorfer Kaserne für ersteres. Übriggeblieben sind die Offiziere - und Kretschmer wünscht sich nichts sehnlicher als seine ehemaligen Untergebenen als Zivildienstleistende zurück.

Zwei Drittel der Flüchtlinge sind Roma, einige andere deutschstämmige Rumänen. Seit vier Tagen ist auch der zweite Block belegt, aufgenommen wird niemand mehr, es sei denn, er kommt nachts oder kann nachweisen, daß Familienangehörige in der Biesdorfer Kaserne untergekommen sind. Major Harry Kretschmer hat in seinem Leben noch nie mit Flüchtlingen zu tun gehabt, aber er tut im Moment, was von ihm verlangt wird: dafür zu sorgen, daß die Leute mit Betten und Essen versorgt werden. Kleiderspenden von DDR-Bürgern werden verteilt. Rumänisch spricht er nicht, aber mit den Leuten käme er schon klar. „Vor der Uniform haben sie Respekt.“

Wenn die Uniform zur Durchsetzung der Autorität nicht reicht, ist Kretschmer auf eine der fünf DolmetscherInnen angewiesen. Jutta Höhne, Angestellte eines Ostberliner Übersetzungsbüros, arbeitet seit dem 29. April in der Biesdorfer NVA-Kaserne, „im Schichtdienst - das strengt ganz schön an“. DolmetscherInnen für Rumänisch sind offensichtlich rar in der DDR, trotz einstiger sozialistischer Bruderschaft. Sie sind die einzigen, die der Öffentlichkeit vermitteln können, warum die Menschen in die DDR geflohen sind.

Nico, ein 28jähriger Roma aus Arat, ist mit Frau und Kind angereist, „um sich hier einmal umzuschauen nach Arbeit“. Annehmen will er jede. Ein, zwei Jahre in einem Aufnahmelager zu leben, würde ihm nichts ausmachen. Maria, 48, ist mit einem ihrer elf Kinder und drei Enkeln angereist, um sich hier einer Brustoperation zu unterziehen. In Rumänien habe man sie nicht behandeln können, die Ärzte hätten ihr geraten, es in der DDR zu versuchen. Eine Woche dauert die Nachbehandlung noch, dann will sie zurück. Andere wollen bleiben oder weiter nach Westdeutschland.

Ein Ende der Karawane ist vorläufig nicht abzusehen. Die Ostberliner Ausländerbeauftragte Anetta Kahane kündigte gestern einen Notaufruf an internationale Hilfsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften an, um finanzielle Unterstützung zu erbitten. Die DDR habe die historische Aufgabe, als „Nachzügler der Geschichte bedrängten Bürgern Gastfreundschaft zu zeigen“, dafür brauche man Hilfe aus dem Ausland, sagte Frau Kahane.

anb