Streik wird zur politischen Kraftprobe

In Nicaragua streiken 80.000 Staatsangestellte gegen die drastischen Preiserhöhungen durch die neue Regierung Violeta Chamorros / Sandinistische Gewerkschaften fordern 200prozentige Lohnerhöhung  ■  Aus Managua Ralf Leonhard

Eine Streikwelle im öffentlichen Dienst stellt die bürgerliche Regierung Violeta Chamorros vor die erste Kraftprobe. Für „illegal, unerlaubt und nicht existent“ erklärte Arbeitsminister Francisco Rosales am Montag die Streiks und drohte allen Angestellten, die Dienstag nicht am Arbeitsplatz erschienen, mit sofortiger Entlassung. Polizei und Armee sollen in besetzten Ministerien Ordnung schaffen. Auch die Ausrufung des Notstandes wollte der Minister nicht ausschließen. Staatschefin Chamorro hielt es für notwendig, spät in der Nacht noch eine Botschaft an die Nation zu verlesen und das Ende der Streiks zu fordern.

Die sandinistischen Gewerkschaften hatten am Sonntag Verhandlungen abgebrochen, weil sich Rosales weigerte, eine 200prozentige Lohnerhöhung zu gewähren. Die Regierung will offensichtlich den Einfluß der sandinistischen Gewerkschaften brechen und gleichzeitig Polizei und Armee vor eine Loyalitätsprobe stellen. Denn mit der geforderten Lohnerhöhung wird gerade der Reallohnverlust ausgeglichen.

Das Arbeitsministerium ist von den Angestellten besetzt. „Der Minister kommt uns hier nicht mehr herein“, versichert Jazmina Morales, die vor der Tür auf dem Rasen sitzt. Spruchbänder über der Tür und auf dem Zaun weisen auf die Forderungen der Staatsangestellten hin: 200 Prozent Lohnerhöhung und Rücknahme der Suspendierung des Staatsdienstgesetzes, das die öffentlichen Angestellten vor willkürlicher Entlassung schützt. Auf der anderen Straßenseite liegen sechs Polizisten im Schatten. „Wir haben nur darüber zu wachen, daß es hier zu keinen Unruhen kommt“, versichert der Patrouillenchef. Einsatzbefehl gegen die Besetzer gebe es noch keinen.

Seit dem Streikbeginn am Donnerstag sind rund 80.000 Staatsangestellte in den Ausstand getreten. Im Transport und im Sozialministerium wurde den Ministern von den Arbeitern der Zutritt verweigert. Auch Zentralbankpräsident Francisco Mayorga durfte nicht in sein Büro. Die Banken und Postämter sind geschlossen. Seit Montag werden auch keine Ferngespräche mehr vermittelt. Zu den Gewinnern des Streiks gehören die Schmuggler und Importeure, denn der Zoll fertigt derzeit ohne Gepäckskontrolle ab.

Vor dem Ruben-Dario-Nationaltheater am Managuasee wird jeden Abend musiziert und Theater dargeboten. Denn die sandinistischen Künstler solidarisieren sich mit den Angestellten des Kulturinstituts, die das Theater besetzt halten.

Die neue Regierung hat die Nicaraguaner in weniger als drei Wochen mit einer Preislawine nach der anderen überrollt. Lohnerhöhungen von bis 100 Prozent, die die sandinistische Regierung in letzter Minute verordnet hatte, konnte der neue Zentralbankchef Francisco Mayorga nicht mehr rückgängig machen. Deswegen neutralisierte er die gestiegene Kaufkraft der Arbeiter durch drastische Preiserhöhungen. Die Landeswährung, der Cordoba, ist in wenigen Tagen um mehr als 100 Prozent abgewertet worden. Treibstoffpreise, Wasser- und Stromtarife wurden mehr als verdoppelt, teilweise gar verdreifacht. Die Bauern, die an weiche Kredite gewöhnt sind, müssen in Zukunft 15 Prozent Zinsen in harter Währung zahlen.

Mayorga hat sich vorgenommen, in hundert Tagen die Inflation zu bändigen und durch Produktionsanreize die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Allerdings hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn ohne Finanzspritze kann der Plan nicht aufgehen. Ein Paket von 300 Millionen US-Dollar, mit dem George Bush seinen Freunden in Nicaragua unter die Arme greifen will, ist aber noch immer nicht durch den Kongreß gekommen. Und die Regierung in Washington, die nie um Einfälle verlegen war, wenn es darum ging, die bewaffnete Konterrevolution funktionsfähig zu erhalten, zeigt sich heute erstaunlich gleichgültig gegenüber den Nöten Violeta Chamorros.

Präsidentschaftsminister Antonio Lacayo erklärte letzte Woche, daß die Sanierungsmaßnahmen drastischer ausfallen würden, als ursprünglich geplant. Mayorga macht die Sandinisten für die Krise verantwortlich. Sie hätten in den letzten Monaten den Geldumlauf verdoppelt und längst fällige Preisanpassungen der neuen Regierung überlassen. Doch Violeta Chamorro und ihre Leute werden an den eigenen Versprechungen gemessen. Noch vor einigen Wochen hatte der Zentralbankchef Mayorga gleichzeitig Reallohnerhöhungen, Steuersenkungen und Inflationsdämpfung versprochen.

Daß die von Krieg und Wirtschaftsembargo der USA ausgeblutete Wirtschaft am Rande des Zusammenbruches steht, wußte man schon im Wahlkampf. Die Streikenden sind besonders empört, seit bekannt geworden ist, daß die Minister, die dem Volk strikte Austerität verordnen, nicht weniger als 5.500 Dollar verdienen. Das ist etwa dreißigmal mehr, als ein Minister der Sandinistischen Regierung bezog. Die Suspendierung des Staatsdienstgesetzes am vergangenen Freitag und ein gleichzeitig erlassenes Dekret, welches die Rückgabe konfiszierter Grundstücke ermöglicht, werden von den Sandinisten als Kampfansage aufgefaßt. Denn die Agrarreform ist einer der Pfeiler der Revolution. Mitglieder der alten Landoligarchie und Parteigänger Somozas sind bereits aus Miami angereist, um ihr an die Bauern verteiltes Hab und Gut zu reklamieren.

Gab es anfangs eine stillschweigende Koalition zwischen dem moderaten Technokratenkreis um Frau Chamorro und den Sandinisten, um den revanchistischen Flügel der Regierungskoalition zu isolieren, so scheint die Regierung heute gegen die Revolutionäre geeint zu sein. „Es geht um eine Kraftprobe, inwieweit die Revolution rückgängig gemacht werden kann“, so der Dichter Raul Orozco, der hinter den Provokationen die steuernde Hand der US-Botschaft zu erkennen glaubt.

Nach den Drohungen von Arbeitsminister Rosales, an Dienstag alle Streikenden fristlos zu entlassen, haben sich immer mehr Staatsangestellte und Betriebsgewerkschaften mit dem Streik solidarisiert. Lucio Jimenez, der Generalsekretär der sandinistischen Gewerkschaftsföderation FNT, gab die Devise aus, daß schrittweise das Transport, das Post- und Fernmeldewesen, die Banken und die Schulen in den Ausstand einbezogen werden sollten.