„Der Begriff 'Unterbrechung‘ ist Heuchelei“

Auf Initiative der Westberliner Frauensenatorin fand vergangenen Montag die erste öffentliche Anhörung „zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Ost und West“ statt / ExpertInnen aus der DDR und der BRD fordern Fristenlösung für Gesamtdeutschland  ■  Von Ulrike Helwerth

Darüber waren sich alle - ExpertInnen und ZuhörerInnen einig: Kein Paragraph 218 für die DDR. In einem zukünftigen gesamtdeutschen Abtreibungsgesetz müsse mindestens die Fristenlösung, wie sie in der DDR gilt, festgeschrieben werden. Die meisten aber forderten gleich die ersatzlose Streichung des „Zwangsparagraphen“ aus dem Strafgesetzbuch der BRD.

Zur ersten öffentlichen Anhörung „zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Ost und West“, hatten sich vergangenen Mittwoch rund 100 Interessierte ins Rathaus Schöneberg in West-Berlin eingefunden. Initiatorin und Gastgeberin der Veranstaltung: Frauensenatorin Anne Klein. In einem geeinten Deutschland müsse es einheitliche Bestimmungen für einen Schwangerschaftsabbruch geben. „Dies darf nicht über die Köpfe der Frauen durch männliche Politiker entschieden werden“, hatte sie besorgt in ihrer Einladung geschrieben. Darin plädierte Anne Klein für eine „fortschrittliche deutsch-deutsche Lösung“, die das Selbstbestimmungsrecht der Frauen „nicht mit Füßen tritt“, kurz: Abtreibung soll nicht mehr strafbar sein. JuristInnen, ÄrztInnen, SozialwissenschaftlerInnen und BeraterInnen aus der BRD und der DDR bezogen Position zu den juristischen, politischen und sozialen Aspekten der Abtreibung in den beiden deutschen Staaten und versuchten sich in gesamtdeutschen Perspektiven.

Die besondere Aufmerksamkeit galt dabei den ReferentInnen aus der DDR. Dr. Gerd Henning, Leiter der Ehe- und Sexualberatungsstellen in Leipzig, berichtete, daß nach Verabschiedung der Fristenlösung 1972 die Abtreibungszahlen zwar stark angestiegen, nach Einführung moderner Kontrazeptiva sie dann aber stetig gefallen seien. Laut offizieller Statistik wurden 1989 73.699 Abbrüche durchgeführt. Sorgen bereitet der ÄrztInnenschaft aber, daß trotz Verhütungsmittel die „Wiederholungsinterruptiones“ stark zugenommen haben. 1987 lagen sie bei 35 Prozent, 1976 dagegen noch bei 16 Prozent. Auch werden immer mehr Minderjährige schwanger. Die steigenden Abbruchszahlen aus sozialer Unsicherheit und Zukunftsangst, die im Augenblick von vielen ÄrztInnen und PolitkerInnen beklagt werden, sieht Gerd Henning eher gelassen. In „Zeiten der Unruhe“ käme das immer vor. „Das wird sich schon wieder einpendeln.“ Im übrigen forderte der Frauenarzt eine bessere Beratung, lehnte aber jede Zwangsberatung ab. Die Ärzte müßten ihre „ethische Verpflichtung“, die ihnen das Gesetz nahelege, wieder ernster nehmen.

Dem pflichtete auch Dr. Schmidt, Leiter der Frauenklinik in Köpenick, bei. In den 60er Jahren erlebte er, wie Frauen nach illegalen Eingriffen massenweise in die Klinik eingeliefert wurden. Das machte ihn zu einem frühen Verfechter der Fristenlösung. Doch heute würden „die Chirurgen mit der Kürette (Löffel zum Ausschaben der Gebärmutter - Anm. d. Red.) das Geschlechtsleben regulieren“, so seine Kritik. Er ließ eine Erhebung machen. Demnach sollen 90 Prozent aller abtreibenden Frauen nicht verhüten sondern „in den Tag hineinleben“. Dabei könne man Frauen heute doch die Verhütungsmittel geradezu „auf den Leib schneidern“. Empörte Zwischenrufe aus dem Publikum „Und was ist mit den Männern“ erwiderte er mit: „Die Kondome bei uns sind nicht zu empfehlen.“

Auffallend bei allen DDR-ÄrztInnen: ihre primär technokratische Herangehensweise. Mit besserer Aufklärung und Verhütungsmitteln wollen sie die Abtreibung in den Griff bekommen. Psychischen und sozialen Probleme näherten sie sich kaum. Dr. Jarowke, Gynäkologin aus Ost-Berlin, sprach zwar von Schuldgefühlen, denen abtreibende Frauen ausgesetzt seien, von einer Kriminalisierung durch die Gesellschaft aber könne nicht die Rede sein.

Das aber hatte Gabriele Grafenhorst, Schriftstellerin aus Potsdam, behauptet. Nach einem „schmerzhaften und demütigenden“ Abbruch hatte sie begonnen, die Abtreibungssituation in ihrem Land zu hinterfragen. Sie sprach mit betroffenen Frauen und ÄrztInnen, sammelte Berichte aus dem „bedrückenden Alltag in der Abtreibungsfabrik“, setzte sich mit den Schuldgefühlen von Frauen auseinander, die abtreiben ließen, mit der „Doppelbelastung, Täter und Opfer zu sein“. Sie wollte das „Abbruch-Tabu“ öffentlich machen. (Ihre Tonbandprotokolle werden demnächst unter diesem Titel im Verlag „Neues Leben“ erscheinen.)

„Der Begriff 'Unterbrechung‘ ist Heuchelei“, kritisierte Gabriele Grafenhorst. Denn ein Schwangerschaftsabbruch ließe sich nicht fortsetzen. „In der Gesetzesformulierung steckt also die Halbherzigkeit, mit der uns das Recht auf Selbstentscheidung zugesprochen wurde.“ Das anscheinend liberale Gesetz ließe Frauen mit ihren Gewissensnöten, sie habe keine getroffen, „die zur Abtreibung ohne Einwände Ja sagte“. Frauen fühlten sich auch heute noch schuldig und von der Gesellschaft stigmatisiert. Die Schriftstellerin forderte die Streichung des Abtreibungsparagraphen.

Susanne von Paczensky, Autorin und Mitarbeiterin im Hamburger Familienplanungszentrum fand die DDR-Fristenlösung durchaus auch kritikwürdig. Nicht akzeptabel findet sie die Einschränkung, daß innerhalb von sechs Monaten nur mit Genehmigung einer Fachärztekommission zum zweiten Mal abgetrieben werden darf. Denn entweder gebe es Selbstbestimmung oder nicht. „Schlecht für Frauen und teuer für die Solidargemeinschaft“ hält sie den Zwang zum stationären Eingriff im Krankenhaus. Sie forderte stattdessen dezentrale, ambulante Einrichtungen. Die bekannte und langjährige Streiterin gegen den Paragraphen 218 nahm noch einmal die unsinnige Forderung nach „Schutz des ungeborenen Lebens“ auseinander. Aufgabe des Staates müsse es sein, die Mutter zu schützen. Denn wenn die Mutter den Fötus nicht schützt, könne auch der Staat nichts machen. Heftig wehrte sie sich auch gegen die immer wieder erhobenen Behauptungen, Abtreibungen führten bei Frauen zwangsläufig zu seelischen Problemen. Darüber gebe es bisher überhaupt keine haltbaren Forschungsergebnisse, so Susanne von Paczensky. Stattdessen machte sie den Frauen Mut, sich gegen den Anspruch der „Rund-um-die-Uhr-Verhütung“ zur Wehr zu setzen und sich unschädlicheren Sexualpraktiken zuzuwenden. Zur Diskussion um eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in der DDR meinte sie: „Die Auflehnung müssen die Frauen in der DDR schon selber machen.“

Mit dem Leiden unerwünscht geborener Kinder will Gerhardt Amendt, Soziologe an der Uni Bremen und langjähriger Leiter der dortigen Pro Familia einen „Perspektivenwechsel“ in der Diskussion um den Paragraphen 218 einführen. Reichhaltige Studien hätten ergeben, daß unerwünschte Kinder ihr ganzes Leben unter dieser offenen oder unterdrückten Ablehnung zu leiden hätten. So würden sie zum Beispiel häufiger Opfer familiärer Gewalt. Solches Kinderelend könne nur verhindert werden, indem Frauen ein volles Selbstbestimmungsrecht zugestanden, die Unerwünschtheit von Kindern und der heimliche Abtreibungswunsch enttabuisiert und die „gesellschaftlich betriebenen Idealisierung von Müttern“ aufgehoben werde.

Ein Appell an die Männer, sich stärker in der Abtreibungsdiskussion zu engagieren, kam von Dr. Pape-Grupe von der Westberliner Ärztekammer. Seine Erfahrung: Viele junge Frauen werden von Männern unter Druck gesetzt. In der BRD seien die Abtreibungszahlen jedoch deutlich rückläufig. Der Gynäkologe forderte die nicht unumstrittene Abtreibungspille RU486 auch für den hiesigen Markt.

Den juristischen Rahmen der Anhörung steckte gleich zu Anfang die Rechtsanwältin und Professorin für Strafrecht in Wiesbaden, Claudia Burgsmüller ab. Der Schutz des ungeborenen Lebens sei nicht über ein Strafrecht regelbar. Repressiver Zwang sei nicht angemessen. Das BRD-Strafrecht sei darüber hinaus eine „Kuriosität“ in ganz Europa, weil hier ein Verfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Strafpflicht auferlege. Die zahlreichen Angriffe der letzten Jahre auf die Notlagenindikation hätten zu einer Rechtsunsicherheit im Lande geführt. Die aktuelle deutsch -deutsche Diskussion böte nun die Chance, sich erneut für eine Fristenlösung einzusetzen.

Der härteste Angriff auf die „Reproduktionsautonomie“ der Frauen sei derzeit aber die Reproduktionsmedizin, warnte Claudia Burgsmüller und wandte sich entschieden gegen die eugenische Indikation, das „Einfallstor“, um von Frauen „gesunde“ Kinder abzuverlangen. Im Hinblick auf die Paragraph-218-Prozesse in Memmingen und Koblenz forderte die Juristin einen umfassenden Datenschutz für Patientinnen und ein Zeugnisverweigerungsrecht.