Atomlobby will zu neuen Ufern aufbrechen

■ „Jahrestagung Kerntechnik 90“ in Nürnberg / Nürnbergs SPD-Oberbürgermeister für „Einstieg in den Ausstieg“ / Proteste vor der Tagung

Nürnberg (taz) - Zum Ausgangspunkt eines „langsamen, aber unumkehrbaren Prozesses der Neubewertung der Kernenergie“ soll die gestern in Nürnberg begonnene „Jahrestagung Kerntechnik 90“ werden, hofft der Präsident der Kerntechnischen Gesellschaft, Weinländer, vor der Konferenz. Drei Tage werden 1.100 Fachleute aus Forschung, Industrie, Wirtschaft und Politik Fragen der Entsorgung, des Atomrechts, der Kernfusion und der Kohlendioxid-Problematik erörtern.

Weinländer, früher Geschäftsführer der „Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen“ (DWK), blickt optimistisch in die Zukunft. Die Erkenntnis nehme zu, daß „das wirkliche Problem unserer Zeit nicht die Kernenergie“ sei, sondern der Eintrag von Kohlendioxid in die Erdatmosphäre. Als Lösung bot Weinländer die Kernenergie an, die „in Zukunft noch einen sehr viel höheren Beitrag leisten“ könne. Der „Schock“, den die Aufgabe der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf bei Industrie, Forschung und Politik ausgelöst habe, sei damit einem „Aufbruch zu neuen Ufern“ gewichen. Die Europäisierung der Wiederaufarbeitung besitze auch „durchaus ihre positiven Seiten“. Einen neuen Markt sieht die Atomwirtschaft im Osten. Es sei eine moralische Pflicht, so Weinländer, deutlich zu sagen, daß beim „Wiederaufbau der mitteldeutschen Energiewirtschaft der Kernenergie eine zentrale Rolle zukommen muß“. Zum ersten Mal sind auf der vom „Deutschen Atomforum“ und der „Kerntechnischen Gesellschaft“ veranstalteten Tagung auch Teilnehmer aus der DDR vertreten, darunter der Vorsitzende der neugegründeten „Kerntechnischen Gesellschaft der DDR“, Prof. Flach.

Der Nürnberger SPD-Oberbürgermeister Schönlein erinnerte in seinem Grußwort an Tschernobyl und fragte, ob die Menschheit mit der Energiegewinnung durch Kernspaltung nicht jene von der Natur gesetzten Grenzen überschreite, „wo nur noch der perfekte Mensch, die perfekte Gesellschaft und der perfekte Staat diese Technik wirklich beherrschen könnten“. Er plädierte für den „Einstieg in den Ausstieg“, würdigte aber den Wert der in Nürnberg umstrittenen Tagung.

Während die Konferenzteilnehmer den Oberbürgermeister mit müdem Beifall verabschiedeten, waren sie von Staatssekretär Goppels Ausführungen begeistert. Der Sohn des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten setzte sich vehement für die „eigenständige Verantwortlichkeit der Wissenschaft“ ein und wandte sich gegen „bezahlte Agitatoren des Kommunismus“, die den Fortschritt im Westen bekämpften. Goppel ließ offen, ob er damit auch die Gegendemonstranten meinte, die die Konferenzteilnehmer mit Trommelschlägen auf Atomfässern empfangen hatten. Verschiedene Umweltorganisationen hatten eigens vor der Meistersingerhalle das Modell eines Atomkraftwerks und eine Imitation des Bauzaunes von Wackersdorf aufgebaut. Sie wollten damit klarmachen, daß „Atomenergie kein Weg aus der Klimakatastrophe“ sei.

Bernd Siegler