SYMPATHISCHE SOSSE

■ „Stadt unter Strom. Zur Kulturgeschichte der Elektrifizierung“ - Eine Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg

Strom ist ein seltsamer Saft, nicht faßbar als Substanz, aber monströs in der Wirkung. Physiklehrer veranschaulichen das Unerklärliche gern mit kleinen Erbsen, die durch einen Schlauch gequetscht werden: Ihre Anzahl bestimmt die Stärke, ihre Schnelligkeit die Spannung - oder war's umgekehrt? Elektrizität hat, befand im Jahre 1900 der Aufzugfabrikant Carl Flohr, „etwas Champagnerprickelndes an sich“. Zwölf Jahre später kam keine Familie im Neuen Westen, die etwas auf sich hielt, an der schwebenden Beförderung mehr vorbei. 1907 waren in Charlottenburg bereits 270 Aufzüge zum laschen Betriebspreis von 200 Mark angeschlossen worden.

Kleinere und größere Unfälle erhöhten den Reiz: 1912 wird von einem Fahrstuhl berichtet, der mit steigender Geschwindigkeit an die Decke raste und sich dort verklemmte. Sein Insasse, ein Herr von Dulong, beschwerte sich beim Fabrikanten: „Meine Frau und ich haben die Ruhe bei diesem Unfall nicht verloren, waren aber jeden Augenblick gegenwärtig, aus dem Fahrstuhlkasten in die Tiefe abzustürzen.“ Ein anderer Herr, Assistenzarzt und offenbar zerstreut, trat beim Einstieg ins Leere, stürzte in den Schacht und schlug mit beiden Füßen auf: Der Arzt attestierte „beidseitigen, unheilbar traumatischen Plattfuß“.

Solcherart skurrile Anekdoten vom Leben und Sterben mit der Elektrizität begleiten angenehm die Ausstellung „Stadt unter Strom. Zur Kulturgeschichte der Elektrifizierung“ im Heimatmuseum Charlottenburg, die sich ansonsten an didaktischen Schautafeln, Dokumenten und authentischen Elektro-Objekten wie Volksempfängern, Bogenlampen, Pendelzählern entlanghangelt und auf das Stromerlebnis verzichtet: kein Stromschlag im Schutzanzug, keine Durchleuchtung auf Herz und Nieren, kein Speerscher Lichtdom im Empfangsraum, narzißtisch-nazistischen Nervenkitzel nachstellend... Ein wenig altmodisch kommt die Stadtgeschichte daher, indem sie die Inszenierung der Faszination vermeidet, und stattdessen Geschichten aneinanderreiht - Elektrizität als Luxus, die Normierung des Stroms, Fortschritt und Wohlstand - Geschichten, die aber alle im gängigen Koordinatensystem bleiben. Hätte ich mir doch eine Geschichte städtischer Folter gewünscht, eine Suche nach Spuren elektrischer Theologie im Charlottenburg des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, eine Besprechung von knisternder Freud‘ und grellem Leid im Wandel der Zeiten und was der überfälligen Analysen mehr wäre.

Immerhin beginnt die Ausstellung mit der Bernsteinelektrizität, die man im 18. Jahrhundert als Nervensaft, als Lebensfluidum, als eine allen organischen Prozessen zugrundeliegende Soße erfuhr. Als Folge ersann man nette Gesellschaftsspiele „mit erotischen Zügen“ wie etwa das, bei dem der unter Strom gesetzte Kavalier der Dame die Haare aufstellt, oder jenes, knapp achtzig Jahre später, bei dem ein anderer Kavalier im elektrischen Stuhl, jetzt ohne Dame, aufgeladen wird. Jetzt erst wird der Strom zum „Lebensnerv“ des gesellschaftlichen Organismus, Soße der Beschleunigung, der Einteilung, der Rationalisierung von städtischem Leben und Arbeiten.

Das elektrische Licht legalisierte die Nachtschicht, die Normaluhr, das erste gleichgeschaltete Meßgerät, schied im „Sympathiesystem“ Freizeit von Arbeitszeit. Und während die Arbeiter zu Hause unter der Petroleumfunzel die klammen Finger sich wärmten, flanierten die Charlottenburger Großbürger unter elektrischer Straßenbeleuchtung, fuhren mit Straßen- oder Zwei-Klassen-Hochbahn zu ihren Villen. Böse Welt, böser Strom, Klassenträger, unheilvolles Gespenst: „Dieser ‘Motor des kleinen Mannes (der Elektromotor) spukt schon seit 4 Jahrzehnten als Heilmittel in der Volkswirtschaft herum, ohne daß man recht ersehen kann, warum das bißchen Verbilligung der mechanischen Betriebskraft eine so gewaltige Wirkung haben soll...“ (Elektrotechnischer Anzeiger, 1890).

Aus den unterirdischen Strömen der Ausstellung taucht dann und wann als U-Boot ein Großkonzern auf: Siemens, ursprünglich Telegraphenfabrik Siemens & Halske, ansässig in Charlottenburg. Siemens lieferte die Maschinen für die ersten Kraftwerke, war Monopolist in der Glühlampenproduktion, schwor mithilfe seiner Normal-Uhren die Charlottenburger auf „Ordnung, Pünklichkeit, Zufriedenheit“ ein (ein Dreisatz, den sie nie vergessen sollten), revolutionierte die Pferde- durch die Straßenbahn und die Karosse durch die Hochbahn. Ein Pionier, ein Demokrat, ein Staatsbürger ersten Ranges: Siemens. Und seine Erben: Einkassierer des gleichnamigen jüdischen Werks und der Aron-Pendelzähler-Fabrik (Heliowatt-Werke) 1935, Wahrer deutschen Wirtschaftswesens im Erwerb „dieser beiden stark nichtarischen Gesellschaften“.

Auch bei der Zwangsarbeit mochte man nicht zurückstehen. Die 35.000 ausländischen Siemens-Zwangsarbeiter, in sieben hauseigenen Lagern untergebracht, „scheinen“, heißt es treuherzig im Ausstellungskatalog, „dem Konzern keinen Grund zur Klage gegeben haben, der seinerseits bemüht war, die ausländischen Arbeiter und Kriegsgefangenen als tüchtige Arbeiter ebenso zu behandeln wie die deutschen“. Welch Privileg, das dem tüchtigen, nicht dem arbeitsscheuen Gesindel gebührt, sich zu Tode zu rackern. Immerhin haben sie es besser, als ihre jüdischen Vorgänger, die, da sie 1943 deportiert wurden und weiter nicht mehr vorkamen, in einem Satz ihr Ende finden. Hat der Arbeitgeber und Entlasser, der das Ausstellungsheft mitfinanziert und mit ganzseitiger Image-Werbung beglückt hat, hier Zeilen geschunden?

Dabei ließen sich an dieser Werkschronik nicht nur Strickmuster und Verkabelung „objektiver“ Wissenschaft mit „objektiver“ Wirtschaft studieren, sondern auch die Herkunft der Phänomene auf der Ebene der Versprachlichung: Zum Beispiel trug der Gemeinschaftsempfänger überhaupt den Namen DAF 1011, nach jenem 10. November, an dem Göbbels und Hitler in der Werkshalle bei Siemens auftraten, um zu allen Betrieben zu sprechen - der Chronist verzeichnet's und geht zur Tagesordnung über. Bemühen sich doch die Ausstellungsmacher, Entwickler und Lösungsmittel, Technik und Politik, fein säuberlich zu trennen: Reichsrundfunkminister Bredow samt Credo vom unpolitischen Rundfunk mußte abtreten, die Nazis machten einen politischen daraus und erfanden das Wunschkonzert. Völkerverständigung, und wie. In schönster Ausgewogenheit wird a) große Euphorie und b) große Ernüchterung über das „friedliche Atom“ nach Verfallsdaten abgehandelt: Ein tragischer, tapfer ertragener Irrtum der Politiker (wußte man denn von geheimen Kriegsversuchen, hätte man Hiroschima denn wissen können?) und gutgemeinter, watteweicher Museumsstaub senkt sich auf die Verdienste der Bürger-Inis und Strahlenmeßstellen und die schon so gut wie angestellte Erstickungsanlage des Charlottenburger Kraftwerks. Am Ende kriegt man die Elektrizität doch wieder in den Allroundgriff, wie den berauschenden Piccolo, der als Mixer, Entsafter, Kaffeemühle, Staubsauger und Bohrmaschine gleichzeitig loslegen konnte. Strom ist gar nicht so, oder? Man muß ihn nur zu nehmen wissen.

Die Siemens-Zeitschrift mit dem heute wieder klangvollen Namen „Der Anschluß“ probte die Produktion dieser heilen Welt, in der die Hausfrau der fünfziger Jahre orgiastisch staubsaugen sollte, schon im Jahre 1930. Das Saugen selbst wollte gelernt sein: „Die Verkäuferin hat erkannt, was man einer Hausfrau tatsächlich zeigen muß, nämlich, daß der Staubsauger den Schmutz auch wirklich vom Teppich entfernt. Sie hat den Teppich mit Sägespänen bestreut und saugt nun einen Streifen mühelos ab. Sie benutzt damit, bewußt oder unbewußt, die psychologische Kontrastwirkung und zeigt: hier Sauberkeit, dort Schmutz.“

Dorothee Hackenberg

„Stadt unter Strom. Zur Kulturgeschichte der Elektrifzierung“, bis 31. Juli im Heimatmuseum Charlottenburg. Im Ergänzungsprogramm: Betriebsbesichtigung Elektrizitätszählerfabrik Heliowatt (Aron-Werke) am 3. Juli, 10r, begrenzte Teilnehmerzahl. Anmeldung im Heimatmuseum erforderlich. Tel. 3430-3201. Besichtigung des Kraftwerks Charlottenburg am 23. Mai, 6., 27. Juni und 10. Juli, jeweils 16 Uhr, begrenzte Teilnehmerzahl, Anm. erforderlich.