Klaustrophobische Weite

■ Filmfestspiele Cannes: Depardons „La captive du desert“

Cannes (taz) - Unter „Arbeitsbedingungen“ steht im Presseheft: „40 bis 50 Grad im Schatten“, aber Schatten gibt es in der Sahara nicht. Eine Karawane zieht vorbei. Links im Hintergrund kommt sie ins Bild, rechts vorne geht sie heraus. Man hört den Wind, der manchmal eine Staubwehe hochreißt. Das Knirschen der Schritte im Sand, ab und zu das tiefe Blöken eines Kamels. Die Leute, Nomaden vom Stamm der Tubu, gehen zügig, aber ohne Hast, streng in einer Linie. Sie sagen nichts. Mit ihrer schwarzen Haut und den bunten afrikanischen Stoffe, die sie tragen, setzen sie einen scharfen Akzent gegen das Hellbeige der Wüste und das Hellblau des Himmels. Am Ende der Karawane folgt eine weiße Frau. Sandrine Bonnaire trägt ein hellrosa Sommerkleid, das viel zu leicht ist, um ihr Schutz gegen die Sonne zu bieten. Sie hat auch nichs auf dem Kopf. Gefesselt ist sie nicht. Die Überwachung durch die beiden Männer hinter ihr wirkt nachlässig, formell. Die Wüste ist ein effektiveres Gefängnis als die finsterste Zelle.

Raymond Depardon, Fotograf der Gamma- und Magnum-Agenturen und Dokumentarfilmer, war 1970 zum ersten Mal in der Sahara. 1974 gingen seine Bilder von Francoise Claustre um die Welt, einer Französin, die von rebellierenden Nomaden festgehalten wurde. Aber La captive du desert ist keine hektische Nachstellung einer Geiselnahme. Depardon interessiert sich weniger für die Story als für die Situation, das Eingesperrtsein in einem unendlichen Freiraum.

Der Film versetzt sich gewissermaßen hinein in diese Situation, beweisen will er nichts. Die Einstellungen sind lang und oft distanziert, der Blick kann wandern. Der Film redet auch nicht. Sandrine Bonnaire lernt stumm den Umgang mit den dürftigen Schatten und den geringen Mengen Wasser, die zaghafte Annäherung an die Frauen und Kinder des Stammes, während sie ihre Bewacher schroff behandelt. Kaum eine Schauspielerin kann sich so weit zurücknehmen und so selbstverständlich mit Laien zusammenarbeiten wie Sandrine Bonnaire. Gegen die Freiheit des Blicks in dem Film setzt sie ihre Verschlossenheit, und der Film kann ihr diese Integrität getrost lassen. Sie gehört zu den Schauspielern, die auch die Affekte darstellen können, die sich nicht darstellen, die Verzweiflung, die sich aus Angst und Stolz nicht äußert.

Der Film verzichtet auch auf Musik. Es gibt nur die Geräusche des Winds, der Oase und der wenigen Menschen und Tiere und den tumultösen Lärm des Flugzeugs, das mitten in der Wüste landet, um die Gefangene nach ihrer Freilassung in die Zivilisation zurückzuholen.

Thierry Chervel