LUSTVOLLE ENTMANNUNG

■ Brechts „Mann ist Mann“ vom Thalia Theater Hamburg

Wenn jemand seinem Psychoanalytiker vor dem Eingang zum Theater begegnet, braucht er sich nicht zu wundern, wen er auf der Bühne zu sehen bekommt: das Schauspiel von der Leugnung des Vaternamens, von der Leerstelle der Subjektivität, vom Opfer des Signifikanten, von Kastration und Tanz um das Symbolische herum.

Dabei hat dieser jemand ein Brecht-Stück gesehen. Und zwar eines, das, wie Thomas Brasch schreibt, zwischen Brechts „Kraftprotzerei- und Klassikphase“ anzusiedeln ist. Vielleicht ist dieser Mann ist Mann deshalb kein rein hölzernes Bengele zu Lehrsatzdemonstrationszwecken geworden, seine Bühnenexistenz eher ein überdimensionierter Furz aus dem Kanonenrohr. Das Stück, 1921 geschrieben, hat dennoch schon die Charakterköpfe von der Bühne verbannt, ist eine Parabel über die Austauschbarkeit des Menschen, über seine Käuflichkeit, über den Wandel von Mister Individuum zu Mister 08/15, über Krieg, Mannestollheit, Brecht gegen Brecht, und so fort.

Als solches von einer Frau inszeniert. Katharina Thalbach bedient sich dieser Soldaten- und Männerorgie, um zu beweisen, daß Manns primäre Geschlechtsmerkmale nur hinterher drangenäht sind. Und um zu zeigen, daß sie nur aus Stoff, Plastik und Gummi bestehen. Wie der ganze darüber errichtete Restmann ebenfalls nur aus Gummi, Schaumstoff, Knetmasse, Gips, „rohem Ei“ und anderem Stopfmaterial ist.

Was dem Mann jedoch keinesfalls abträglich sein muß. Die Schauspieler des Thalia Theaters, die einzeln zu nennen der Intention der Inszenierung zuwiderliefe, werden wie chinesische Babys in feste Bänder geschnürt, ihnen werden Stirn, Kinn und Mienenspiel genommen, ihr gestisches Repertoire genau festgelegt. Wie der Kleistsche Gliedermann, der durch Mangel an Bewußtsein in seiner Grazie einem Gott ähnlich wird, haben diese am Hinterkopf zugeschnürten und scheinbar ferngesteuerten Puppen einen genialen Tanz aufs Parkett gelegt. Ob Leokadja Begbick ihren balkenförmigen Bürzel dem Packer Galy Gay in die Seite plaziert oder dieser sich um den eigenen Bauch zum Moon of Alabama im Kreise dreht, ob die Soldaten auf der Stelle treten oder die tibetanischen Mönche japanisch kleinschrittweise mit dem Klingelbeutel an der ersten Besucherreihe entlangmarschieren, ob die Pagode sich gelegentlich ihrerseits in der Hüfte windet, ob „blutiger Fünfer“ den linken Arm mit dem Generalsstäbchen immer auf Schulterhöhe abgewinkelt hält und mit langer Nase und langen Schritten wie ein Fuchs über die Bühne huscht, ob ein Soldat mit seinem Fuß in einen Eimer gerät, ob einer seinen Kopf, ein anderer seine Hand, ein dritter Haarbüschel in der anthropophagen Pagode verliert, ob Galy Gays Frau in einer japanischen Fisteltonlage säuselt oder die Budenbesitzerin ihre lasziven Sprüche quetscht: Maske und figurenbedingte Einschnürung erlauben den Darstellern ein grotesk-burleskes Spiel in der Beschränkung; ein Phallus, der sich verselbständigt, kann immerhin ausgerissen werden.

„Der Vorwurf des Galgei hat etwas Barbarisches an sich. Es ist die Vision vom Fleischklotz, der maßlos wiehert, der, nur weil ihm der Mittelpunkt fehlt, jede Veränderung aushält, wie Wasser in jede Form fließt. Der barbarische und schamlose Triumph des sinnlosen Lebens, das in jede Richtung wuchert, jede Form benützt, keinen Vorbehalt macht noch duldet. Hier lebt ein Esel, der gewillt ist, als Schwein weiterzuleben. Lebt er denn? Er wird gelebt“ (Brecht). Wenn jedes Gelebtwerden so viel Vitalität in sich birgt wie in dieser Inszenierung, werde ich nicht mehr nach individueller Authenzität verlangen und mit meinem Analytiker künftig nur mehr ins Theater gehen.

Michaela Ott