Bürger dürfen nicht ihre Stasi-Akten einsehen

■ Innenminister Diestel sperrt die Unterlagen der Staatssicherheit / Ein „mitmenschliches Weiterleben“ liegt ihm sehr am Herzen / Neue Regierungskommission ohne die alten Experten / Zahlen zur Übernahme von MfS-Personal / Der Minister sprach mit Markus Wolf

Berlin (taz) - DDR-Bürger werden keine Einsicht in ihre Stasi-Akten erhalten. Eine Aufarbeitung der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bedeute, „daß dies alles in einer Art und Weise geschehen muß, die ein mitmenschliches Weiterleben in dieser Gesellschaft zuläßt“. So philosophierte Innenminister Diestel (DSU) am Mittwoch vor versammelter Presse. Er habe zwar Verständnis, wenn die Betroffenen - darunter auch zwei Millionen Bundesbürger - in die über sie angelegten Dossiers einsehen wollten, es ginge halt nicht. Der Wahrheitsgehalt der Unterlagen sei nicht überprüfbar und auf Grund der vielen erfaßten Details könnten die Einseher Rückschlüsse auf die Informanten ziehen. Kurz: Das personenbezogene Aktenmaterial muß blockiert bleiben, um nicht erneut Mißtrauen und Denunziantentum in die Gesellschaft zu tragen. Zugriff zu den Akten bleibt nach Diestels Beschluß nur den Gerichten und der Staatsanwaltschaft, wenn sie diese zur Aufklärung von Straftaten benötigten. Auch dem zuständigen parlamamentarischen Untersuchungsausschuß sollen sie im Einzelfall zur Verfügung gestellt werden.

Was für die Abgeordneten der Volkskammer gilt, unterbleibt bei den kommunalen Parlamentariern. Eine Überprüfung der etwa 120.000 Mandatsträger ließ Diestel in seinem Hause ausrechnen, würde mindestens zwei Jahre dauern, wird also nicht gemacht. Er will aus den Akten Verstorbener erfahren haben, daß im Lauf von 20 bis 30 Jahren „pro Akte bis zu 50.000 Detailfakten“ gesammelt wurden. Für den weiteren Umgang mit dem Stasi-Material will sich der Minister den „gutachterlichen“ Rat des Bonner Datenschutzbeauftragten Einwag holen.

Auf das Mitglied des Erfurter Bürgerkomitees, Mathias Büchner, angesprochen, reagierte Diestel sauer. Büchner hatte vor laufender Kamera im DDR-Fernsehen einem versteinerten Innenminister eine Liste mit Namen von Abgeordneten mit MfS-Vergangenheit überreicht. „Dieses Verfahren lehne ich ab“, hielt Diestel nun den fragenden Journalisten entgegen - schließlich könne er den Wahrheitsgehalt der Behauptungen nicht überprüfen. Auskunft darüber, ob er eine entsprechende Untersuchung anstrengen will, blieb Diestel schuldig.

Brüskiert fühlen sich auch die ehrenamtlichen Stasi -Auflöser. Der DSU-Politiker will nun eine Regierungskommission bilden, der nur noch einer der drei amtierenden Regierungsbeauftragten zu Auflösung des MfS angehören soll. Diestel würdigt zwar die Leistungen der Bürgerkomitees und der Beauftragten, seine Kritiker werden in der neuen Kommission aber nicht mehr vertreten sein. Die Bürgerkomitees, so Diestel, „werden in ihren Aufgaben eine Veränderung erfahren“.

Von den 85.000 offiziell aufgelisteten Mitarbeitern des MfS sind nach Angaben des Leiters der staatlichen Kommission zur MfS-Aulösung, Günther Eichhorn, 2.350 vom Innenministerium für die Bereiche „Anti-Terror-Kräfte“ und Personenschutz übernommen worden. Die auf der Pressekonferenz erhobenen Vorwürfen, wonach auch eine 120 Mann starke Anti-Terror -Einheit übernommen wurde, die am 7. Oktober in Berlin maßgeblich an Übergriffen auf DemonstrantInnen vor dem Haus des Lehrers beteiligt war, versprach der Minister nachzugehen. Der Zoll nahm 2.375 frühere Stasi-Leute auf, bei den Grenztruppen fanden 6.600 eine neue Anstellung. Die Post und das Institut für wissenschaftlichen Gerätebau haben dem Bericht zufolge jeweils 1.500 Mitarbeiter des MfS übernommen. Als „Bunkerexperten kamen 270 bei der Nationalen Volksarmee unter. Als Arbeitslos werden 2.300 der MfS-Leute geführt, 7.500 würden keiner Arbeit nachgehen, heißt es, und über den Rest ließen sich keine Angaben machen.

Diestel berichtete auch von einer längeren Unterredung mit dem früheren Vize-Chef des MfS, Markus Wolf. Dieser habe ihn überzeugt, daß er in der letzten Monaten in Moskau nicht für sowjetischen Geheimdienst gearbeitet habe. Wolf wird von bundesdeutschen Verfassungsschützern angelastet, die Übernahmen der Reste seines früheren Spionage-Imperiums an den KGB betrieben zu haben.

Wolfgang Gast