Einheitsglocken schlagen den Leuten zu schnell

500 Menschen beim Bürgerforum des Bündnis 90 zum Staatsvertrag / Zustandekommen des Staatsvertrages gleicht einer Kapitulation  ■  Von Torsten Preuß

Berlin (taz) - Punkt 18 Uhr schlug die Glocke der Berliner Sophienkirche im Ostteil der Stadt an. Dort versammelten sich am Mittwoch abend etwa 500 Menschen, um in einem Bürgerforum des Bündnis 90 zu erfahren, ob die letzte Stunde der DDR mit dem Staatsvertrag zum 2. Juli geschlagen hat. Auf dem Podium saßen Wolfgang Templin, Mitarbeiter in der Volkskammerfraktion des Bündniss 90 und Mitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte, Hans Georg Fischbeck, Stadtverordneter des Bündnisses in Berlin, und Prof. Wolfgang Ullmann stellvertretender Volkskammerpräsident und Mitglied von Demokratie Jetzt.

Symptomatisch für die Veranstaltung war die Wut über den Glöckner von Oggersheim, der die Einheitsglocken in immer schnelleren Takten schlägt, ohne Rücksichtnahme auf die Zuhörer, die das ganze Konzert bezahlen müssen. „Wir wehren uns gegen die Art und Weise, wie der Staatsvertrag zustande gekommen ist“, erklärte Wolfgang Templin unter dem donnernden Applaus der Zuhörer.

Für die war sowieso das Wort „Kapitulation“ treffender. Uniformiert und ungefragt wie 40 Jahre lang, fühlen sie sich wieder als bloße Verhandlungsmasse, die ausbaden soll, was hinter verschlossenen Türen über ihre Köpfe hinweg ausgeheckt wird. Prof. Ullmann, der Kraft seines Amtes den tiefsten Einblick in den Staatsvertrag hatte, wirkte dementsprechend deprimiert. „Dieser Staatsvertrag ist die schlechteste Möglichkeit für das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten.“

Warum, das erklärte er so: „In der Währungs-, Wirtschafts und Sozialunion geht es um genau diese Reihenfolge. Also zuerst das Kapital und zum Schluß das Soziale“. Überhaupt hatte jeder das Gefühl, daß die 40jährige Mißwirtschaft nun von deren Opfern und nicht von deren Tätern bezahlt wird. Die sitzen zum Beispiel in der Handelsorganisation immer noch in ihren alten Sesseln.

Dort boykotieren sie zur Zeit den Ankauf von Waren Made in DDR zugunsten von Westerzeugnisen, die beinah ungehindert den Weg in die Kaufhallen der Republik finden. Prof. Ullmann kennt aus seiner Praxis auch die Gründe für deren plötzliche Hinwendung zum ehemaligen Klassenfeind. „Die bekommen für ihre Dienste Provision in D-Mark oder Arbeitsplatzgarantie.“

Hans Jürgen Fischbeck erinnerte in der Diskussion dann an die Falschmeldungen, mit der in der BRD die WWS-Union gerechtfertigt wurde. Kanzleramtsminister Teltschik log damals frech in die TV-Kameras, daß die DDR angeblich vor der Zahlungsunfähigkeit stünde. Sogar die Wahlen wären gefährdet. Die Panzerwagen hätten damals schon bereitgestanden, um die DDR-Bevölkerung mit der Westmark zu erlösen. Dafür gebe es zwar nur Andeutungen aus immerhin gut unterrichteten Kreisen, so Fischbeck, die Zuhörer konnten sich derartiges aber durchaus vorstellen. Fühlen sie sich doch jetzt schon als die Verlierer beim Wettrennen um den Platz an der aufgehenden deutschen Sonne.

Zwar soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, Anteilsscheine am Volkseigentum zu erwerben, aber dahinter steckt, laut Ullmann, nur ein weiterer Trick. Zum einem erwerben sie damit nur, was ihnen sowieso gehört, zum anderen hat die Regierung genau das Volkseigentum schon als Garantiefüllung für die absehbaren Defizite im DDR-Haushalt in den Staatsvertrag eingebracht.

Der selbe Etikettenschwindel bei den Schulden der DDR -Betriebe. Die mußten im SED-Reich bis zu 90 Prozent ihrer Einnahmen an den Staat abgeben und sich die Gelder für neue Investitionen danach bei der Staatsbank durch Kredite besorgen. Praktisch haben sie sich so ihr eigenes Geld gepumpt. Diese Schulden werden jetzt aber in D-Mark umgerechnet und nach dem westlichen Vorbild verzinst.

Damit entsteht von Anfang an eine Abhängigkeit bei nun westdeutschen Großbanken, die seit kurzem mit der jetzt in eine Kreditanstalt umgewandelten Staatsbank eng zusammenarbeiten und kraft der härteren Mark dort auch das Sagen haben werden. Am west-östlichen Warenfluß zeigt sich auch die Zukunft der dann ehemaligen DDR. „Passieren wird“, meint Ullmann, „daß Waren kommen werden, aber kein Kapital. Damit wird Kaufkraft abgeschöpft, aber bei fehlenden Investitionen keine neuen Möglichkeiten geschaffen, selbige wieder zu erneuern. Die westdeutsche Industrie kann ein Gebiet wie die DDR locker aus ihren Beständen heraus mitversorgen.“

Die Ex-DDR wird somit zum strukturschwachen Gebiet, sprich zum Sardinien Deutschlands. Das Wertvollste, was die Bevölkerung noch besitzt, ist der Besitz an Grund und Boden. Da es das einzige ist, was die Regierung noch flüssig machen kann, ist genau das am gefährdetsten. Templin sieht in dessen Erhaltung den entscheidenden Kampf, denn „das ist das letzte was wir haben“.

Er forderte auch, jetzt alle Kraft in die Verbesserung dieser „Vorabauslieferung der DDR“ durch den Staatsvertrag, notfalls mit erneutem Druck von der Straße, zu setzen. Beifall und Zustimmung der Anwesenden kamen prompt. Wie hoch die Emotionen in der Bevölkerung angesichts der so ungewissen Zukunft schwappen, zeigt die uneingeschränkte Zustimmung für die Feststellung einer jungen Frau: „Es geht um unser Leben.“