POTENZIERTES WUNDSPIEL

■ Kresniks preisgekröntes Bremer Theater vertanzt „Ulrike Meinhof“

Terroristen tanzen lassen kann nur Zeitgeistchoreograph und Freiassoziateur Johann Kresnik. Nach Macbeth in der Barschelbadewanne und - soeben in Stuttgart aufgeführt Marat/Sade vor einem Lafontaine-Attentats-Schnappschuß ist auch Kresniks Ulrike Meinhof reich an aktuellen Anspielungen: Das „Christin-wird-Terroristin„ -Aufarbeitungsballett spielt sich zwischen Schäferhundwohnzimmerplüsch und Minischutzwall ab. Meinhof -Biographie, Apo-Revolte und militanter Untergrund werden zum deutsch-deutschen Pamphlet gegen eine faschistoide Wohlstandsgesellschaft aufgepeppt. Wenn sich der Vorhang mit aufprojizierter Deutschlandflagge senkt, ist wieder ein Stück erdrückender Wirklichkeit maßstabsgetreu und zum Wechselkurs 1:1 abgebildet worden.

Ulrike Meinhof als brave Geigerin, als blindwütig entschlossene flugblattverteilende Sophie Scholl der sechziger Jahre und als Trotta-Trenchcoat-Tragödin gleich dreimal verkörpert, muß zunächst eine schrille Revue deutscher Unterhaltungsstars über sich ergehen lassen, beobachtet Marilyn Monroe einen verwundeten Koraner über die Zinnen zerrend, wird von einem Baader in Kunstlederkluft aus einer Pelzjackengesellschaft gerissen und von ihren Kindern getrennt. In innerer Zerrissenheit muß sie ihr Kleid auseinanderschneiden. Das deutsche Intellektuellen- und Mutterschicksal vollendet sich am Fleischerhaken und mittels Zungenkastration.

Kresniks Bilder, untermalt von Schlachthausschwenktüren, Demonstrationsgittern und einer beweglichen Stahlrohrkonstruktion im (symbolbefrachteten) Dreieck (Bühne: Penelope Wehrli) gehorchen aufs Wort. Der Soundtrack aus Streicherstakkato und Syntheziser-Dramatik (Serge Weber) ist untrüglicher Anzeiger für Gefahr und Gewalt. Anläßlich der Verleihung des mit 30.000 DM dotierten Theaterpreises der Stiftung Preußische Seehandlung würdigte Theaterguru Michael Merschmeier den Preisträger als „den Trauerarbeiter des deutschen Theaters“. Wer nicht hören wolle, müsse sehen. Kresniks Theater sei „ein ewig zeitgemäßer Auftrag“: „Zeigt her eure Wunden, damit ihr jene Wunden zu sehen vermögt, die ihr anderen zugefügt habt und noch immer zufügt.“ Die Senatorin für Wissenschaft und Forschung, Riedmüller-Seel, sagte anläßlich der Preisverleihung, wenn sie richtig informiert sei, sei Kresnik zu einem Wegbereiter des kritischen Tanztheaters geworden, das auf Kompromisse keinen Wert lege. Vergangenheits- und Gegenwartsbewältiger Kresnik will einen Teil der Preises brasilianischen Straßenkindern zur Verfügung stellen.

Dorothee Hackenberg