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Illusionen - nein, danke

■ Zwei Romane über die chinesische Kulturrevolution

Nun ist es ein Jahr her, da in Peking der Frühling der Demokratie sich zu regen begann. Er währte nur kurz und wurde auf Befehl der herrschenden Greise nach wenigen Wochen brutal erstickt. Das von Panzerketten zerfräste Pflaster auf dem jetzt wieder ängstlich abgesperrten Platz des Himmlischen Friedens ist ein trauriges Menetekel für die erneut zunichte gemachten Hoffnungen chinesischer Intelleketueller, endlich auch einmal reifen zu sehen und ernten zu können, was die Öffnung gegenüber dem Ausland, die wenigen Jahre des intensiven kulturellen Austausches (auch im vorsichtigen Herantasten an Taiwan) und die freieren künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten während des letzten Jahrzehnts (trotz Kampagnen gegen „geistige Verschmutzung“ und „bourgeoise Liberalisierung“) für die Entwicklung einer modernen chinesischen Kultur und Literatur vorbereitet hatten.

Der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin kondensiert diese traumatischen Vorgänge zu der provokanten These: „Offensichtlich ist: Was den Nazis die Juden waren, sind der Kommunistischen Partei Chinas die Intellektuellen.“ Die kulturelle Wüste in der Volksrepublik nach dem zwangsweisen Verstummen der meisten Autoren und dem Exodus der besten Köpfe gibt Kubins Einschätzung recht. Da also in dieser Situation auf unabsehbare Zeit an schriftstellerische Arbeit (es sei denn, in Form von erpreßten Selbstkritiken und Ergebenheitsadressen) kaum zu denken ist, bleibt dem Westen nur der Rückgriff auf ältere Texte, die im grellen Licht der Ereignisse von 1989 fatale Aktualität erlangen.

So erschien kürzlich die deutsche Übersetzung von Zhang Xianliangs autobiographischem Roman Die Hälfte des Mannes ist die Frau aus dem Jahre 1985, ein weiteres Stück „Narbenliteratur“ über zwanzigjährige Alltagserfahrungen in einem chinesischen Gulag. Um es vorweg zu sagen: Das Buch hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Der reißerische Titel ist eine wörtliche Übersetzung des Originals und keine Erfindung cleverer Werbeleute im deutschen Verlag - womit der erfahrene Leser chinesicher Gegenwartsprosa schon vorgewarnt sein dürfte und sich wohlweislich auch gefaßt macht auf einen weiteren Frontalangriff auf das Tabuthema „Sexualität in China“. Hier wird seine Geduld durch die weitschweifigen Exkurse des mit seiner Hauptfigur namensgleichen Erzählers oft strapaziert.

Nicht die Existenz der sexuellen Probleme des Häftlings Zhang ist ärgerlich, sondern die Art und Weise, in der dieser chinesische Chauvi mit Schulbildung sie kuriert: auf Kosten seiner Frau nämlich. Sie, die er als spätes Glück im Lager endlich noch gefunden hat, darf ihn zwar von seinen psychosomatischen Leiden (d.h. Weltschmerz und Impotenz) befreien, aber nur unter strikter Selbstverleugnung. Nachdem sie ihn wieder zum „ganzen“ Mann gemacht hat, verläßt er sie wegen ihrer einmaligen Untreue und weil er sich noch zu Höherem, zur Mitwirkung an der Reformpolitik Deng Xiaopings, berufen fühlt: „Du hast mir die Kraft zum Leben wiedergegeben, meine Jugend wiedererweckt. Aber diese Kraft bringt mich jetzt dazu, dich zu verlassen. Diese Jugend kann dir nicht gehören...“ Immerhin zitiert er Marx, Lenin und Mao ebenso geläufig wie Zhuangzi, Mengzi, Freud, Shakespeare oder die Bibel, seine Frau hingegen ist „hübsch, sinnlich, aber auch dumm“. Zhangs Schlußsentenz: „Frauen werden die Männer nie besitzen, die sie geschaffen haben.“ Der „schönste und auch wichtigste Roman der letzten Zeit aus China“, wie vom Verlag angepriesen, kann dieses Buch schon wegen seiner kruden Frauenfeindlichkeit nicht sein. Ein Dokument aber ist es allemal: für die Zähigkeit jener platten Vorurteile, die der Autor seiner Hauptfigur in den Mund legt, ebenso wie für die geistige Knechtschaft in der Abgeschiedenheit der Haft, gegen die er sich mit seiner Zitierwut aufbäumt.

Zhangs Hauptthema nämlich, das er, nur um Aufmerksamkeit zu erregen, in die Sexstory verpackt, ist eigentlich die geistige Kastration des chinesischen Volkes durch die Politik. So leistet er seine Trauerarbeit, denn: „Wie einem Tier, dem das Fell abgezogen wird, riß man uns die Kultur vom Leibe.“ Hier beschreibt ein Intellektueller stellvertretend für unzählige andere, wie er die besten Jahrzehnte seines Lebens in diversen Arbeitslagern im rauhen Norden des Landes zugebracht hat, verbannt wegen irgendeiner Nichtigkeit (ein falscher Zungenschlag in einem Gedicht) und gestoßen in die fremde soziale Ordnung eines Lageralltags, dessen Hierarchien auf geradezu groteske Weise anders funktionieren als in der bizarr-verkehrten Welt der Kulturrevolution: „Ein Arzt, der draußen den ganzen Tag mit der Reinigung von Toiletten beschäftigt gewesen war, wurde mit Eintritt ins Lager Oberarzt der Abteilung für Innere Medizin (...) Ach, in dieser chaotischen Zeit fühlte man sich im Arbeitslager wie im siebten Himmel!“ In erster Linie also ist dieser Roman furchtbar wahr, vom Leben selbst geschrieben - was zugleich auch seine künstlerischen Schwächen mitbedingt.

Ein anderer, früher Versuch der Auseinandersetzung mit den psychischen und moralischen Folgen der Kulturrevolution stammt aus der Feder von Bei Dao (eigentlich Zhao Zhenkai): Gezeiten . Ein Roman über Chinas verlorene Generation. Der Autor ist im Westen hauptsächlich als einer der wichtigsten Vertreter der „obskuren Lyrik“ bekannt geworden (siehe taz vom 1.8.1989). Er erstellte eine erste Textfassung bereits 1974, unter konspirativen Umständen in der Endphase der Kulturrevolution, während der Bei Dao ähnlich wie die Hauptpersonen seines Buches zwangsweise aufs Land verschickt worden war. In einer offiziellen Zeitschriftenversion erschien der überarbeitete Text 1981; seine jetzige Publikation in einer mit blutrotem Vorsatzpapier versehenen deutschen Hardcover-Ausgabe ist wohl (so sind eben die Marktgesetze) dem traurigen Faktum geschuldet, daß Bei Dao seit dem Junimassaker im Exil leben muß.

Die Entstehungszeit des Buches ist insofern interessant, als darin schon früh Bei Daos hellsichtige Analyse der desolaten gesellschaftlichen Moral in China zum Ausdruck kommt. Schlank in der Form und kühl-distanziert in der Sprache, schildert er illusionslos am Beispiel von Einzelschicksalen die mit jeder neuen Kampagne zunehmende Verzweiflung und innerliche Verhärtung der jungen „revolutionären Massen“. „Die Träume unserer Generation sind nur zu bitter und nur zu lang, man kann gar nicht aus ihnen erwachen. Und wenn man doch aufwacht, wird man nur wieder von einem neuen bösen Traum erwartet“, bekennt die frühere Rotgardistin Xiao Ling. Sie ist eine jener zahllosen Jugendlichen mit Schulbildung, deren mißbrauchter Eifer nunmehr in einem tristen Provinznest buchstäblich im Morast zu versinken droht. Die Heimatlosigkeit, die geographische wie ideelle Entwurzelung dieser jungen „Frau mit Vergangenheit“ (sie hat ein uneheliches Kind von einem Rotgardisten) schlägt sich als blanker Zynismus nieder: „Danke, dieses Vaterland ist nicht meines! Ich habe kein Vaterland (...) Vaterland, ach nein, keine dieser fundamentalen Spielsachen existiert wirklich.“ Ein Student des Jahres 1990 wird kaum anders empfinden.

Das Buch ist kein Roman im strengen Definitionssinn; er hat weder einen Anfang noch ein wirkliches Ende, er liefert nur Bruchstücke der Lebensgeschichten seiner Protagonisten. Durch seine multiperspektivische Erzählweise tritt das epische Element zugunsten szenisch-episodenhafter Gestaltung in den Hintergrund. Zudem bedient sich der Autor häufig des filmischen Stilmittels der Rückblende, um den disparaten Lebensbildern seiner Figuren Tiefenschärfe zu geben und ihr Verhalten andeutungsweise zu motivieren. Diese komplizierte Struktur des Buches ist eine Widerspiegelung der komplizierten psychischen Verfassung der einzelnen, vom Zufall zusammengeführten Personen. Strenge Konstruktion und äußerliche Willkür stehen so in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis.

Mit dem unglücklich liebenden Paar Xiao Ling und Yang Xun, dem alten Kader Lin Dongping oder dem herzensguten Bandenführer Bai Hua und seinen Kumpanen hat der Autor ein ungewöhnliches Panoptikum von Figuren zusammengestellt. Bei Dao rührt damit auch an Tabus, denn er zeigt (wenngleich verhalten und unspektakulär) Dinge, die es in der Volksrepublik laut Ideologie eigentlich gar nicht geben darf: florierenden Opiumhandel, organisierte Diebstahlskriminalität und Jugendprostitution als Alltagserscheinungen dieseits der „revolutionären“ Grausamkeiten fanatisierter Rotgardisten.

Wir hatten bisher immer nur das Gefühl von Kälte gehabt, einer Kälte, die aus dem Herzen kam, die aus dem Bedürfnis nach Wärme entstand“, stellt Yang Xun beim intimen Zusammensein mit Xiao Ling fest, in der Hoffnung, die langersehnte Geborgenheit nun doch noch gefunden zu haben. Der Autor kann sich frelich bestimmten Klischees des traditionellen Puritanismus in Chinau auch nicht ganz entziehen: „Nein, Männer kehren niemals um (...) Wirklich, gib sie weg, es wäre besser“, läßt er den wankelmütigen Liebhaber wenig später sagen, als dieser von der Existenz der unehelichen Tochter seiner Geliebten Xiao Ling erfährt. Die Liebe hat es schwer, auf einem von Enttäuschungen und Zynismus dermaßen verseuchten Grund zu gedeihen; folgerichtig läßt Bei Dao seine beiden Hauptpersonen an ihrer erschöpften Kraft zum Vertrauen scheitern. Abrupt, wie ein Welle, die in sich zusammenfällt, bricht das Buch ab.

Bei Dao dient das in Erinnerungsbildern leitmotivisch wiederkehrende ewige Auf und Ab der Gezeigen als Symbol für seine zutiefst pessimistische Geschichtsauffassung nach dem Mißbrauch und der letztlichen Zerstörung der Ideale ganzer Generationen durch Maos menschenverachtende Politik. Der im Jahr der Republikgründung geborene Bei Dao glaubte schon Mitte der siebziger Jahre nicht mehr an die Veränderbarkeit der Volksrepublik und die Existenz von „guten“ Kadern, Politikern, Staatslenkern, wie sie der ältere Zhang Xianliang (Jahrgang 1936) oder andere chinesische Autoren der mittleren Generation (Zhang Jie, Wang Meng) noch hoffnungsvoll in Deng Xiaoping verkörpert sahen. Der Blutsonntag von Peking und der triste Zustand des Landes geben dem Pessimismus des Jüngeren recht.

Christiane Hammer

Zhang Xianliang: Die Hälfte des Mannes ist die Frau (Roman). Aus dem Chinesischen von Petra Retzlaff; Limes-Verlag, 293 Seiten, DM 34

Bei Dao: Gezeiten . Ein Roman über Chinas verlorene Generation. Aus dem Chinesischen von Irmgard E.A. Wiesel; hrsg. und mit einem Nachwort von Helmut Martin; S.-Fischer -Verlag, 206 Seiten, DM 29,80

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