Die Wahrheit als Zwiebel

■ Pawel Huelles großartiger Roman „Weiser Dawidek“

Polen ist zwar, solange die Weichsel durchs Land fließt wir wissen es -, nicht verloren, aber Polen hat es schwer. Gebeutelt, malträtiert, gepiesackt liegt dieses Land, lebt dieses Volk zwischen Wolf und Bär, zwischen Deutschen und Russen, die es seit Jahrhunderten, im Zuge ihrer gegenseitigen Haßattacken, immer wieder überrollten, zerstückelten, besetzten. Im Laufe dieser Zeit brachten die Polen eine eigentümliche Kultur der gewieften Melancholie, der geduckten Aufmerksamkeit hervor, die bei allen Fragen nach Zukunft und Vergangenheit ein Auge nach Westen, ein Ohr nach Osten richtet und die Probleme der Gegenwart nicht ohne ein Stoßgebet an die Muttergottes von Tschenstochau angeht. Das polternde, schenkelklopfende Kabarett ist dabei genausowenig Sache der Polen wie der farbenprächtige Breitwandfilm oder voluminöse Erziehungsroman. Am ehesten entspricht die kleine Form der behutsamen Annäherung dieser Haltung - der Schwarzweißfilm, das Gedicht, die Erzählung.

Verschmitzt schickte so Andrzej Szczypiorski seine Romanfiguren auf die Suche nach kleinen Antworten auf die großen Fragen, vorsichtig pirschte sich Andrzej Wajda - in der Zeit vor seinen internationalen Großproduktionen zwischen Faschismus und Stalinismus zurück in die polnische Geschichte, und genauso mißtrauisch lauernd und zögerlich läßt der junge Romancier Pawel Huelle in seinem Erstling Weiser Dawidek eine jugendliche Rasselbande durch die Umgebung Danzigs pirschen, auf der Suche nach Erklärungen für eine Reihe phänomenaler Ereignisse.

Die Phänomene waren deutlich: Dawid Weiser konnte Raubtiere hypnotisieren, verloren geglaubte Fußballspiele herumreißen, farbige Explosionen verursachen, ja, dieser zwölfjährige Jude, von dem keiner so recht wußte, wo er eigentlich herstammte, schwebte eines Tages regelrecht in der Luft. Irgendwann im heißen Sommer 1957 tanzte er sich im Keller einer verfallenen Ziegelei in Trance, erhob sich vor den Augen des Erzählers und seiner Freunde „dreißig, vielleicht vierzig Zentimeter über der Erde“ und levitierte. Wie also, und das beschäftigt den Erzähler namens Heller noch ein Vierteljahrhundert später, wie läßt sich derartiges erklären, und wie hängen diese merkwürdigen Fähigkeiten mit dem plötzlichen Verschwinden Weisers im selben Sommer zusammen, und warum mußte sein Freund Pjotr während der Danziger Arbeiterunruhen von 1970 auf die Straße gehen, um nachzusehen, was da los sei, bloß um dann eine verirrte Kugel durch den Kopf zu bekommen? Und warum will heutzutage niemand mehr etwas davon wissen, weder von Pjotr noch von Weiser?

Nicht, daß es darauf Antworten gäbe, nicht daß man ihnen nachtrauern müsse, denn - und das ist der Hintergrund von Polens Melancholie, von Huelles Impetus und vom Charme dieses Romans - wer wird die winzigen Verästelungen der Wahrheit nachvollziehen können, „wer wird die Geheimnisse der politischen Mäander erforschen“, wer wird sich anmaßen, eine Antwort zu geben auf die Frage nach dem Verschwinden eines Freundes, nach der Ermordung Hunderttausender, nach den Warums und Wiesos?

Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, „Klarheit zu schaffen“, nämlich alles aufzuschreiben, denn „in dieser Geschichte gewinnen bestimmte Einzelheiten und Ereignisse erst aus einer entfernten Perspektive ihre Daseinsberechtigung“ - wie übriges in allen großen Geschichten - und deshalb erzählt Heller/Huelle dazwischen immer wieder jene kleinen polnischen Geschichten vom Überleben und Sterben, von den Vätern, die sich am Zahltag bis an die Halskrause volllaufen lassen, vom Biologielehrer, der Schmetterlinge fängt und masochistische Spielchen bevorzugt, vom „Gelbflügler“, jenem verrückten Heiligen, der sich auf den Friedhof geflüchtet hat, und von den Partisanenspielchen seiner Jugendbande in jenem Sommer 1957, als das große Fischsterben die Danziger Bucht und damit den Badesommer verseuchte und jener merkwürdige Weiser ihnen trotzdem die Sommerferien mit Abenteuern füllte - bis er eben verschwand, weg war, wie so vieles so oft in Polen auf Nimmerwiedersehen verschwand. (Möglicherweise - so meine Spekulation- ist er Oskar Matzeraths ebenfalls verschwundenem Großvater Koljaiczek nach Amerika gefolgt und hat dessen Streichholzfabrik übernommen, wer weiß?)

Pawel Huelle traut nichts und niemandem, keinen alten Dogmatikern aus dem Osten und keinen jungen Naßforschen aus dem Westen, keinen Fakten und keinen Versprechungen. Verlaß ist einzig auf die Zwiebel: Hinter jeder Haut steckt eine zweite, und wer sie abschält, kommt um ein tränendes Auge nicht herum. So schält sich aus 25 Jahren Erinnerung, aus (erfolglosen) Befragungen und Interviews langsam eine Geschichte hervor, die nichts anderes erzählt, als daß der Weg das Ziel, der Teufel ein Eichhörnchen und die Wahrheit eine Zwiebel ist.

Günther Grosser

Pawel Huelle: Weiser Dawidek. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, DM 36,