„Deutschland ist nur der Katalysator“

■ Interview mit dem Außenminister der DDR, Markus Meckel / Vorschlag der Sowjetunion zur „Neutralität“ Deutschlands ist falsch / Ohne Einbindung geht es nicht - „Doppelmitgliedschaft“ in Nato und Warschauer Vertrag bisher nur eine Idee

taz: Gibt es eine eigenständige DDR-Außenpolitik, oder könnte das Herr Genscher allein machen?

Markus Meckel: Natürlich gibt es die...

...Können Sie mehr dazu sagen?

Ich denke, dazu braucht man nur anzugucken, was wir machen, um das feststellen zu können.

Bedeutet „Eigenständigkeit“ auch, daß es bestimmte Differenzen zur bundesdeutschen Außenpolitik gibt?

Eigenständigkeit läßt sich nicht zuerst an der Frage der Differenzen, sondern an den eigenen Aktivitäten beschreiben. In diesem Rahmen ergeben sich Differenzen und Gemeinsamkeiten. Der erste Punkt war zum Beispiel die Polen -Reise. Ich weiß nicht, ob Herr Genscher die gemacht hätte. Das interessiert mich auch nicht. Ich habe sie gemacht. Und zwar in dem doppelten Sinne: in bezug auf die Vergangenheit und auch in bezug auf das aktuelle Verhältnis zu Polen, die Frage der Westgrenze. Dabei anerkennen wir den Weg, den Polen für den sichersten hält. Wir binden unser Urteil an das Urteil Polens. Das ist der erste Punkt. Ausdruck unserer spezifischen Situation war die Reise nach Moskau. Die brauchte Herr Genscher so nicht zu machen, weil er andere Sachen vertreten muß.

Die Reise nach Moskau hatte erstens das Ziel, deutlich zu machen: Hier tritt euch eine gewählte, souveräne DDR -Regierung entgegen und kein Juniorpartner, der sich seine Befehle aus Moskau holt. Und zum zweiten: Wir sind sehr interessiert an einer guten Beziehung als Partner und einem Ausbau der Beziehungen. Die Intensität der Beziehungen soll nicht nachlassen, natürlich verändert sich die Art der Beziehungen.

Ein zweiter Bereich ist der Kontakt zu den Nachbarn. Wir haben begonnen, Konsultationen mit den Tschechen zu machen, zu deren Vorschlägen zur Institutionalisierung des Helsinki -Prozesses. Das wird jetzt weitergeführt, um dann möglicherweise zu einem gemeinsamen Vorschlag zu kommen.

Ein zentrales Problem bei dem deutschen und dem europäischen Einigungsprozeß ist, zu verhindern, daß die Sowjetunion an den Rand gedrängt wird. Vorschläge der Sowjetunion zum sicherheitspolitischen Status des vereinten Deutschlands sind bisher abgebügelt worden. Wenn man die spezifische Rolle der DDR betont, bestünde da nicht die Aufgabe auch darin, als Vermittler tätig zu sein?

Es geht für uns nicht darum, zu vermitteln, sondern eigene Interessen zu vertreten. Diese Interessen sind durchaus in bestimmter Weise vermittelnd, aber wir haben nicht von vornherein eine Vermittlerrolle.

Vielleicht „Dolmetscher“?

Ja, es ist durchaus eine Dolmetscherfunktion. Es ist faktisch auch eine Vermittlerposition, weil unsere Interessen dazwischen liegen. Mit Genschers Äußerung stimmen wir voll überein: Daß es wirklich darum geht, die Sowjetunion nicht an den Rand zu drängen. Wenn die Sowjetunion an den Rand gedrängt würde, wird Europa nicht stabil. Es gelingt möglicherweise, daß man bestimmte Sachen wegen der Schwäche der Sowjetunion durchsetzen kann, aber dem künftigen Europa kann das nicht dienlich sein. Das ist meine feste Überzeugung. Daß die Vorschläge der Sowjetunion bisher abgebügelt sind, ist richtig. Das liegt aber auch an der Art der Vorschläge. Ich halte wirklich „Neutralität“ für keinen guten Vorschlag. Ich halte ihn vom Denken her für falsch. Es geht nicht ohne Einbindung. Die Frage einer „Doppelmitgliedschaft“ (Deutschlands in Nato und Warschauer Pakt) ist im Grunde nie durchdacht worden, auch von den Sowjets wurde nie klar gesagt, was sie damit eigentlich meinen. Insofern ist das noch gar kein Vorschlag, es ist eine Idee.

Aber doch eine sehr schöne Idee in Abkehr von traditionellem Denken.

Ja, aber es ist eine Idee und kein Vorschlag. Ein Vorschlag müßte konkreter sein, und bisher ist außer diesem Stichwort nichts gekommen.

Es müßte doch eigentlich in Ihrem Hause mit Hochdruck darüber nachgedacht werden, ob neben der Nato-Mitgliedschaft eines künftigen Gesamtdeutschlands die Doppelmitgliedschaft eine Chance bietet.

Genau darum geht es. Ich benutze das Stichwort nicht, weil ich das nicht für sinnvoll halte, aber daß die dahinterstehende Idee weiterführend ist, davon bin ich auch überzeugt: Die Verpflichtungen, die es gibt, müssen anerkannt werden. Ob sie in Form einer Mitgliedschaft beidseitig anerkannt werden müssen, wage ich eher zu bezweifeln.

Warum sind Sie seinerzeit in der Frage einer Nato -Mitgliedschaft vorgeprescht, als das in der Regierungskoalition und in Ihrer Partei noch gar nicht Konsens war? Im Hinblick darauf, neue Ideen zu entwickeln, war doch diese vorauseilende Zustimmung eher kontraproduktiv.

Das bezweifle ich, denn die Position, die wir in der Koalitionsvereinbarung beschrieben haben und die ich jetzt vertrete, ist nach wie vor aporetisch. Das kann auch gar nicht anders sein. Unsere Position ist: Einbindung ja - es ist schwer vorstellbar, daß dies kurzfristig eine andere Einbindung als die in der Nato sein kann.

Dies hat aber für uns Voraussetzungen, die die Nato erfüllen muß, insbesondere in bezug auf ihre Strategie und ihren Ansatz. Diese Voraussetzungen zu erfüllen, ist für die Nato wiederum nicht so ganz einfach. Es gibt da jetzt Bewegung. Die Frage ist, wie tief die Bewegung geht. Es ist absehbar, daß bei den Kurzstreckenwaffen, Gefechtsfeldwaffen, „flexible response“ etwas in Bewegung kommt.

Gibt es dafür Anzeichen?

Dafür gibt es Anzeichen.

US-Außenminister Baker hat eben erst wieder einen Punkt erwähnt, der in Ihrer Koalitionsvereinbarung enthalten ist: den nuklearen Ersteinsatz. Er meinte, daß daran nicht gerüttelt werden darf.

Das ist für uns ein wichtiger Punkt, daß man daran rütteln muß.

Sie hatten sich schon vielfach hinsichtlich der Abrüstungsperspektiven optimistisch geäußert.

Optimistisch würde ich nicht sagen. Es geht einfach darum: Es muß etwas in Bewegung kommen. Deutschland ist da nur Katalysator. Die deutsche Frage kann nur Katalysator sein für eine Entwicklung, die in Europa sowieso herangereift ist. Sich auf die neue Situation in Europa einzustellen, das muß die Nato nach und nach begreifen. Die Strategien der Nato sind ein Kind alter Zeiten. Jetzt muß klar gefordert werden, daß es solche Veränderungen innerhalb der Strukturen der Nato gibt, die auch der Sowjetunion die Sicherheit geben, die sie braucht.

Sie machen vom Erfolg dieser Verhandlungen abhängig, daß es eine gesamtdeutsche Nato-Mitgliedschaft geben wird?

Ich denke schon, daß man erst am Ende sagen kann, ob man sich darauf einlassen kann, Teil der Nato zu werden. Da vorschnell Aussagen zu machen, halte ich für äußerst unfruchtbar, zumal die Bedingungen von uns klar formuliert worden sind.

Wahrscheinlich wird der Beitritt der DDR zur BRD schneller verlaufen als die Veränderung der Nato-Strategie.

Der Beitritt ist eine Sache, die verhandelt wird. Das heißt, das gehört in die Verhandlungen hinein, die zum Artikel 23 führen.

Wie soll es möglich sein, die ganze Nato-Strategie im Vorfeld der Vereinigung zu verändern?

Es geht einfach um verbindliche Festlegungen und den Beginn dieser Veränderungen. Es muß schon so sein, daß man nicht nur Dinge erklärt, sondern daß davon auch etwas zu sehen ist. Übrigens trifft das gleiche auf die Sowjetunion zu. Die hat hier bisher auch kaum etwas abgezogen.

Wir strotzen auch auf östlicher Seite noch von Waffen, auch Atomwaffen, Gefechtsfeldwaffen und so weiter. Das darf man also auch nicht nur auf Seiten der Nato sehen, sondern die Bereitschaft zur Veränderung ist durchaus auch eine Frage an die Sowjetunion. Das will ich ihnen jetzt nicht zuschieben als Schuld, aber ich denke, die Richtung, die gegangen werden muß, da haben beide Seiten noch tüchtig was zu tun, und das ist von beiden Seiten her möglich, ohne daß man sich gleich völlig ausgeliefert fühlen muß.

Noch einmal zur Frage des Termins gesamtdeutscher Wahlen. Sie sagten „frühestens im Mai“. In den kommenden Wochen wird aber der Druck aus Bonn stärker werden, spätestens am 13. Januar zu wählen. Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen?

Auch „frühestens Mai“ ist kein Termin, sondern heißt: Wir brauchen mindestens ein Jahr. Mir geht es nicht darum, den Mai als Termin zu nennen, sondern darum, zu sagen: Eine Entscheidung über ein Datum ist jetzt überhaupt idiotisch. Wir müssen abwarten, was sind die Folgen der Währungsunion, und die werden ein Vierteljahr brauchen, bevor man sie sieht. Und wir sollten vor dem Herbst überhaupt nicht über Termine reden wollen. Das ist meine erste Forderung.

Das Zweite ist, daß wir eine gemeinsame Bundesrepublik und keinen Zentralstaat wollen, deshalb brauchen wir erst einmal Länder. Das heißt, wir brauchen die Zeit, um die Grundstruktur dieses Landes unter Beteiligung der Bevölkerung zu schaffen. Wir müssen erst einmal ein Ländergesetz machen. Dann müssen sich die verschiedenen Institutionen - auch die Parteien - dieser Staatsgliederung anpassen. Dann muß man die Kandidaten aufstellen.

Auch den Wahltermin kann man nicht im Handstreich machen. Dann brauchen wir für die Länder entsprechende Wahlen in diesem Herbst.

Haben wir die Länder und haben wir die Parlamente, dann müssen die erst einmal ihre Verfassungen machen. Allein schon dieser innerstaatliche, konstitutionelle Aspekt bringt mich zu diesem Zeithorizont von nicht unter einem Jahr. Dazu kommen die äußeren Aspekte. Darüber heute eine Aussage machen zu wollen, halte ich für absolut idiotisch.

Das kann man bestenfalls im September machen. Im Juni haben wir das erste Außenministertreffen, das sich mit diesen Bündnisfragen beschäftigt. Dann die polnische Westgrenze. Ich hoffe, daß wir da zu einer vernünftigen Lösung kommen.

Und schließlich muß sich zwischen Juni und Anfang September etwas in Fragen des Bündnisses bewegen. Zumindest wird man im September eher wissen und klarer sagen können als heute, ob sich etwas bewegt hat und welche Optionen man hat. Also, vor September ein Datum zu nennen, würde ich mich weigern.

Und deshalb ist all das, was da jetzt erzählt wird, Schnee, Partei- und Machtpolitik, aber nicht Politik im Interesse der DDR.

Ist das Konsens innerhalb der Regierung?

Das ist Konsens innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, und es ist eine durchaus zentrale Frage, dann auch für die Regierung. Das Interview führten

Matthias Geis und Walter Sü