Wasserkrieg in Lima

Dürre im Andenhochland führt zur Wasserknappheit in Perus Metropole / Bei der Wasserverteilung werden die Slumviertel benachteiligt / Findige Tankwagenbesitzer kassieren Wucherpreise / Lösungen sind nicht in Sicht  ■  Aus Lima Nina Boschmann

Die Szene hat etwas Gespenstisches: In Decken gehüllte Gestalten bewegen sich ziellos auf einem kahlen Platz hin und her. Außer einigen Tanklastern ist nichts Außergewöhnliches zu sehen, leises Gemurmel dringt durch die Nacht, hier und da ein Fetzen Radiomusik, übertönt vom Donnern der Lastwagen auf der Fernstraße.

Sobald sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt man im Mondlicht Hunderte von Menschen - Männer, Frauen und Kinder hocken auf dem steinigen Boden, lagern auf alten Zeitungen, Kartons oder Plastikplanen, manche im Halbschlaf, andere schon wieder aufgeschreckt und rastlos.

Die seltsamen Nachtschwärmer sind nicht etwa Obdachlose oder Flüchtlinge. Sie sind Bürger von San Juan de Lurigancho, dem bevölkerungsreichsten Distrikt Limas. Eine Dreiviertelmillion Menschen leben hier, und seit Wochen herrscht in Lurigancho akute Wassernot.

Schon in „normalen“ Zeiten ist die Versorgung schlecht, doch durch die Dürre im Andenhochland hat sich die Lage nun dramatisch verschärft. Der Rimac-Fluß, der die gesamte Hauptstadt mit Trink- und Brauchwasser versorgt, führt in diesen Tagen statt der für die Jahreszeit üblichen 72 Kubikmeter pro Sekunde nur etwa 15 Kubikmeter. Das ist der niedrigste Stand seit 1921. Von diesem Rinnsal erreichen nur sieben Kubikmeter die Aufbereitungsanlage - weniger als die Hälfte des kalkulierten Mindestbedarfs der Sechs-Millionen -Metropole.

Ganze Stadtteile „sitzen auf dem Trockenen“ , aus den Wasserhähnen, sofern es welche gibt, kommt schon lange kein Tropfen mehr. Die einzige Hoffnung sind die Tanklaster, die das Wasser direkt aus den Reservoirs beziehen und an die Bewohner weiterverkaufen.

Warten in Wechselschicht

Deshalb finden sich die nächtlichen „Wegelagerer“ in Canto Rey ein, wo eines der unterirdischen Wasserreservoire von Lurigancho installiert ist. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, also bleibt den Bewohnern der Slums von Lima nichts anderes, als „an der Quelle“ zu kampieren, bis sie an der Reihe sind. Javier, einer der Alteingesessenen“ berichtet: „Wir sind schon seit drei Wochen hier. Zwei schieben immer Wache, und alle paar Tage lösen wir uns ab.“ Der Rest der Familie bleibt daheim und versorgt die Wartenden mit Essen und Trinken, denn wer seinen Platz verläßt, kann sich wieder hinten anstellen. Javier ist zuversichtlich, denn er hat die Nummer 148 und gestern haben sie bis 135 bedient. Nur ein Behältnis pro Person wird mit Wasser gefüllt, das ist die eiserne Regel. Die Familie Ordonez zieht deshalb die massenhafte Präsenz dem Prinzip der Wechselschicht vor. Seit drei Tagen sind sie zu fünft vor Ort. Nummer 180 haben sie, also müssen sie noch mit ein bis zwei durchwachten Nächten rechnen, bevor sie wieder Wasser für zwei Wochen zusammenhaben. Doch das, so versichern sie, sei immer noch angenehmer, als jeden Morgen mit Eimern und loszuziehen, um irgendwo Wasser für den Tag zu suchen.

Man weiß allerdings nie genau, wieviele Familien pro Tag von den Tanklastern bedient werden. Die vom Wasserwerk SENDAPAL jüngst verfügte Rationierung, die jedem Stadtteil wenigstens während einiger Stunden die Wasserversorgung sichern soll, gilt in Lurigancho als fauler Witz. „Jetzt zum Beispiel“, sagen die Leute von Canto Rey und weisen auf die in der Ferne schimmernde Straßenbeleuchtung, „gäbe es Strom, um das Wasser hochzupumpen. Aber elf Uhr abends ist offenbar gerade nicht die Zeit, wo wir Wasser bekommen.“ Also bleiben die Tanker leer. „Wenn dann irgendwann morgen früh Wasser ins Reservoir fließt, gibt es wieder keinen Strom, um es hochzupumpen.“ Aus Furcht vor Anschlägen der Guerillaorganisation „Sendero Luminoso“ werden die Wasserwerke vom Elektrizitätswerk nicht über den Plan der Stromrationierung unterrichtet.

Fünf Kilometer weiter, am Reservoir Jose Carlos Mariatequi, treffen kurz vor Mitternacht zwei glückliche Umstände zusammen: es gibt sowohl Wasser als auch Strom. In dickem Strahl schießt das kühle Naß in die Tanklaster. Aber - honi soit qui mal y pense - es ist offenbar gerade nicht die Zeit, in der Wasser verkauft wird. Die Laster fahren gemächlich an den 200 hier kampierenden Familien vorbei - zu zahlungskräftigeren Kunden in anderen Bezirken, wie allgemein vermutet wird. „Und wenn tatsächlich morgen früh noch Wasser für die Barrios übrig ist, sind die Fahrer bestimmt mal wieder 'zu müde‘, um 'raus auf die Hügel zu fahren'“, vermuten die leidgeprüften Bewohner der neuerrichteten Siedlungen am Rande des Distrikts.

Auch Pedro Zazzali, der neugewählte linke Bürgermeister von Lurigancho, hat diese Praktiken bislang nicht verhindern können, obwohl er bereits in den Hungerstreik getreten ist, um Wasserzuteilungen und Polizeischutz für die Zapfstellen zu erzwingen. Solange die staatlichen Einrichtung nicht über die nötige Ausstattung verfügen, wird der Wasserverkauf in der Hand der „Haie“ bleiben, wie die Tankwagenbesitzer hier genannt werden. Und sie werden weiter verkaufen, wann sie wollen und an wen sie wollen und zu dem Preis, den sie durchsetzen können. Zur Zeit sind das bis zu 15.000 Intis (mehr als eine Mark) pro Meßzylinder - eine Menge, die einer Familie allenfalls zwei Tage reicht. Das ist das dreifache des staatlich festgelegten Richtpreises. Auf diese Weise müssen die Haushalte, deren Versorgung von den Tanklastern abhängt, wesentlich mehr Geld für Wasser ausgeben, als die Bewohner feinerer Gegenden, deren Pumpen mit Diesel -Generatoren betrieben werden und auf diese Weise in den wenigen Stunden der Zuteilung die hauseigenen Zisternen füllen können - mit Wasser zum subventionierten Normaltarif.

Selbsthilfe

Um von der Willkür der Lastwagenbesitzer und der Wasserwerke unabhängig zu sein, haben findige Geister an der Hauptstraße von Lurigancho bereits zur Selbsthilfe gegriffen. Nachts um eins sieht man ungewöhnlich viele Spaziergänger mit Eimern, Schüsseln und Gefäßen aller Art - etwas Erfolgversprechendes scheint im Gange zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß es gelungen ist, die Hauptleitung anzuzapfen. Als vor kurzem die Straße neu asphaltiert wurde, hat man gleich die Verlegung eines „bürgereigenen“ unterirdischen Rohrsystems in die Wege geleitet, und nun bedarf es nur einer Schlauchverbindung zwischen Rohrsystem und Hauptleitung und das Viertel ist mal wieder für ein paar Tage versorgt. „Was sollen wir machen“, kommentieren die selbsternannten Ingenieure ihre nicht ganz wasserdichte Konstruktion. „Die Leute gehen ja schon nicht mehr zur Arbeit, weil sie sich um Wasser kümmern müssen.“ Die durchwachten Nächte im Mondschein findet hier keiner romantisch.

Krisenstimmung herrscht derzeit bei den 5.000 Insassen des Gefängnisses von Lurigancho. Weil das gesamte Gefängnispersonal streikt, ist die Bewachung der „Republikanergarde“ übertragen worden, die aber für die Versorgung der Gefangenen nicht zuständig ist. Neuerdings stehen die Angehörigen daher vor der Aufgabe, die Gefängnisinsassen nicht nur, wie üblich, mit Essen und Medikamenten, sondern auch mit Wasser zu versorgen angesichts der Wasserknappheit und der riesigen Entfernungen, die in Lima zurückzulegen sind, ein fast aussichtsloses Unterfangen. Es herrscht akute Seuchengefahr.

Die Wasserknappheit verändert den Alltag nicht nur der Ärmsten oder der Gefangenen. Das Wäschewaschen an den wenigen noch nicht ausgetrockneten Tiefbrunnen ist ein öffentliches Ritual, wie in längst vergangenen Zeiten. Die nachbarlichen Beziehungen werden durch den Wasserklau aus den Zisternen belastet, und die Illustrierten überbieten sich mit mehr oder minder ernst gemeinten Ratschlägen - zum Beispiel, das teure Duschwasser einstweilen durch die gleiche Menge billigen Parfüms zu ersetzen. Wer aus dem Haus geht - sofern er nicht ein Eigenheim mit Generator sein eigen nennt - tut gut daran, ein Eimerchen mitzunehmen. Wer weiß, vielleicht kommt man unterwegs an einer bislang nicht entdeckten Quelle vorbei...

Keine Lösungen

Während die Normalverbraucher also vollauf beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Nasse zu bringen, zerbrechen sich die Fachleute den Kopf, wie der Misere beizukommen sei. 30 neue Tiefbrunnen und eine gerechtere Wasserversorgung verspricht Hilda Abuid, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit der Wasserwerke, fügt aber gleich hinzu, es sei „technisch ungeheuer schwierig“, die vielen Wasserleitungen in den gut erschlossenen Vierteln effektiv zu sperren. Viel schwieriger offenbar, als die wenigen Leitungen in die Stadtrandsiedlungen zuzumachen.

Angesichts solcher lästigen Details denken andere lieber gleich über eine große Meerwasserentsalzungsanlage nach, denn auch der Grundwasserspiegel sinkt schon seit Jahren unaufhaltsam. Vielleicht sollte die Regierung den Notstand ausrufen, das würde die Kontrolle der Tankermafia erleichtern; und vielleicht regnet es ja im nächsten Jahr wieder ein bißchen mehr...

Im allgemeinen Hin und Her fallen zwei Argumente regelmäßig unter den Tisch - vielleicht die wichtigsten. Schon vor Jahren, als die Situation der Wasserversorgung in Lima zwar besorgniserregend, aber noch nicht dramatisch war, stand für die Eingeweihten fest, daß die größte Wasserverschwendung in der Hauptstadt durch die undichten Wasserhähne und Toilettenspülungen verursacht wird - allein durch eine Qualitätskontrolle der verkauften Dichtungen ließe sich das Defizit um die Hälfte reduzieren.

Die andere Frage, die in diesen Tagen nicht geklärt werden kann: Ist eine Sand- und Steinwüste der günstigste Standort für eine Sechs-Millionen-Metropole?