Hand und Hund

■ „Wild at heart“, der neue Film des „Blue Velvet„-Regisseurs David Lynch Heute geht das Festival mit der Kür der Sieger zu Ende

„Wo ist meine Hand?“ fragt der blutüberströmte Bankangestellte nach dem Raubüberfall. „Ist sie ab?“ fragt ebenso sachlich sein gleichfalls schwerverletzter Kollege. „Heutzutage näht man sowas wieder an. Aber wo ist sie nur hingekommen?“ antwortet der erste. Im Maul hat er die Hand des Bankangestellten. Die Räuber, Bobby Peru und Sailor Ripley, sind auch noch da. Bobby Peru - gespielt von Willem Dafoe, dem Jesus aus Scorseses Letzter Versuchung - hat sich eine Strumpfmaske übergezogen, die sein Gesicht deformiert. Darunter sieht man sein Menjou-Bärtchen, die gelblich-braunen Stummelzähne - man fühlt sich von Perus faulem Atem förmlich angehaucht - und ein abgrundtief böses, wirklich abscheuliches Grinsen. Peru lädt seine abgesägte Flinte und zielt auf seinen Komplizen. Zum Schießen kommt er nicht mehr, ein Polizist stellt ihn, Peru wird selbst getroffen, ein-, zwei-, dreimal. Er taumelt, setzt sich die Flinte unters Kinn, drückt ab. Sein Kopf beschreibt unter beständigem Rotieren und mit dem Damenstrumpf als Rattenschwanz eine perfekte ballistische Flugbahn - eine Art auf den Kopf gestellte Parabel -, bevor er auf dem Asphalt des Vorplatzes mit dumpfem Aufschlag zur Ruhe kommt. Der Rumpf liegt wenige Meter entfernt.

Der Lärm der Welt, gegen den Fellini seinen wunderbaren, bitteren neuen Film La voce della luna gesetzt hat, wird in David Lynchs Wild at heart mit aller Macht entfesselt, und man muß sagen: Das hat was. Wild at heart ist so hemmungslos schrill, bunt, laut und grausam, so virtuos in der Ausnutzung aller Mittel, outriert in seiner Melodramatik, willkürlich in den dramaturgischen Sprüngen und karikaturistisch platt im angeklebt wirkenden Happy-End - dem kann man sich nicht entziehen. Der Film ist sozusagen selbst eine auf den Kopf gestellte Parabel. Man kann ihn als Gegenstück zu Pavel Lungins Taxi Blues sehen, der hier vor zehn Tagen den Wettbewerb eröffnete. Wie dieser vom Taxifahrer und dem Saxophonisten, vom Spießer und dem Intellektuellen, also von den Gewaltverhältnissen in Rußland handelte, handelt Wild at heart vor der Gewalt in Amerika. Ein junges Liebespaar, Sailor Ripley und Lula Pace Fortune (Nicolas Cage und Laura Dern) flieht vor Lulas verrückter Mutter und überhaupt vor einer mörderischen Kindheit und Jugend aus dem tiefsten Carolina ins verlorenste Texas. Aber Lula wird die quälenden Erinnerungsbilder auch auf Reisen nicht los, und Gewalt und Wahnsinn lauern überall, auch am Straßenrand und in den Motels. Amerika läuft Amok in diesem Film. Das hat etwas mit der Sprache zu tun. Sprache besteht nur noch aus gestanzten, hektisch ums Einvernehmen bemühten Höflichkeitsfloskeln und zotigen Flüchen. Es gibt keine Begriffe, um Sex, Gewalt, Wahnsinn zu reflektieren und verarbeiten, nur den falschen Trost vorfabrizierter Bilder rasender Medien. Natürlich fliehen die beiden genau an den Ort, wo die Falle längst bereitsteht.

Palmen

für „Taxi Blues“

Heute Abend werden in Cannes die Preise vergeben. Pavel Lungins Taxi Blues ist der allgemeine Favorit für die Goldene Palme - zu Recht, der Film ist die größte Entdeckung des Festivals. Auch Godards Nouvelle Vague und Taverniers Daddy Nostalgie, die beiden anderen schönsten Filme des Wettbewerbs, hätten den Preis verdient. Wie auch immer: Morgen gibt es zum Abschluß dieser Kolumne ein Interview mit Lungin in der taz.

Thierry Chervel