Ostseeschützer fordern Sofortmaßnahmen

■ 300 Umweltexperten der DDR klagen Kläranlagen und ein neues Düngekonzept ein / Schadstoffbelastungen weitgehend unbekannt / Heftige Kritik an der Umweltpolitik des alten Regimes / Derzeit besteht bei DDR-Institutionen ein Zuständigkeitsvakuum

Berlin (taz) - Mit einem offenen Brief an die Umweltminister der Bundesrepublik und der DDR endete am Samstag nachmittag die zweitägige „Konferenz zum Schutz der Meeresumwelt Ostsee“ in Rostock. Darin äußerten sich die 300 TeilnehmerInnen aus Wissenschaft, Kommunalverwaltungen und einzelnen Kombinaten „bestürzt über die derzeitige Situation“ des Gewässers.

In ihrem Brief entwickelten sie einen ausführlichen Forderungskatalog, der vor allem die zunehmende Eutrophierung, d.h. der vermehrten Einleitung organischer Substanzen und stickstoffhaltiger Verbindungen in die Ostsee, stoppen soll. Dazu gehört erstens ein ausführliches Bauprogramm für Kläranlagen, zweitens die ökologische Aufbereitung von Gülle, um die zunehmende Überdüngung der landwirtschaftlichen Anbauflächen zu verhindern, drittens die Einführung kombinierter Tierzucht- und Getreideanbaubetriebe und viertens die Übernahme der EG -weiten Schadstoffbegrenzungen. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR konnten die Experten öffentlich über die Probleme des Ostseeschutzes diskutieren.

Die DDR gilt im Kanon der Ostsee-Anrainerstaaten als kleiner Anlieger, weil sie lediglich 1,5 Prozent des Einzugsgebietes abdeckt. Demgegenüber sind ihre Belastungswerte - soweit bekannt - enorm. Wie der Staatssekretär des DDR-Umweltministeriums, Winfried Pickart, auf der Konferenz mitteilte, werden pro Jahr mindestens 1.710 Tonnen Stickstoff 1.440 Tonnen Phosphor sowie 44.180 Tonnen sauerstoffzehrende Substanzen allein landseits in das Meer geleitet (die Öko-Lasten aus der Oder, die insgesamt Polen zugeschustert werden, sind hier nicht erfaßt). Dazu kommen derzeit unbekannte Mengen von Schwermetallen, toxischen und persistenten Abfallstoffen aus dem Pflanzenschutz. Allein die Nährstoffkonzentration in der Ostsee hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, das Brackwassermeer kämpft mit einem „deutlichen Anstieg der Algenproduktion“ (Pickart). Doch der Staatssekretär zweifelte selbst an der Zuverlässigkeit seiner Angaben: Einschließlich der atmosphärischen Belastungen und „diffuser“ Schadstoffquellen steige die tatsächliche Belastung um das Zwei- bis Dreifache der angegebenen Werte. Die DDR leitet 20 Prozent ihrer Abfälle in die Ostsee, der Rest fließt über die Elbe in die Nordsee.

In 30 Einzelvorträgen zeichneten die Referenten ein zwar lückenhaftes, nichtsdestoweniger erschreckendes Bild des derzeitigen Ostseeschutzes. Jahrelang, so der allgemeine Tenor der Vorträge, seien die Schadstoffbelastungen bekannt gewesen. Trotz Vorlage entsprechender Sanierungspläne habe die SED das nötige Geld aber immer wieder in die Produktion umgeleitet. Entsprechend stieg der Sanierungsbedarf in den einzelnen Kombinaten an. So listete der Direktor des VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung Rostock, Siegemund, die trostlose Bilanz des Abwassersystems im Bezirk Rostock auf. Insgesamt werden von den anfallenden Abwässern nur 43,5 Prozent in Klärwerken gereinigt, das Kanalisationssystem weist Schäden in einer Gesamthöhe von 22 Millionen Mark aus.

Ähnliche Horrorgeschichten wußte der Leiter der Wasserwirtschaftsdirektion Küste, Hubertus Lindner, zu berichten. Nach Lindner hat beispielsweise das Düngemittelwerk Rostock seit Inbetriebnahme allein den zulässigen Stickstoffausstoß pro Jahr um das Fünfzigfache überschritten. „Als 1989 die Pipeline des Kombinats für Ammoniaknitrat leckte und 535 Tonnen des Stoffes aus der Leitung liefen, zahlte der Betrieb lieber 8,6 Millionen Mark Strafe als den Boden ordnungsgemäß zu entsorgen.“ Freikaufen war das bisher geltende Prinzip vor Umweltschutzmaßnahmen.

Scharf gingen die Tagungsteilnehmer mit der derzeitigen Düngepraxis der DDR ins Gericht. Dr. Harenz vom Zentralinstitut für physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften wies darauf hin, daß der mittlere Phosphorgehalt der landwirtschaftlichen Nutzfläche der DDR um jährlich 150.000 Tonnen pro Jahr ansteige. Das liegt vornehmlich an dem hohen Anteil mineralischen Düngers, für den es vor 20 Jahren Bedarf gegeben hat, der heute aber zu einer hoffnungslosen Überdüngung führt. Der Chemiker plädierte für die Aufbereitung von Gülle mit Stroh zu einer Humusvorstufe, weil der Boden der DDR mittlerweile völlig ausgelaugt sei. „Die Böden können den Phosphor nicht mehr aufnehmen, statt dessen wird er über die Flüsse in die Ostsee geschwemmt.“ Wie die zahlreichen Maßnahmen zum Ostseeschutz, die die Teilnehmer auf der Konferenz vorschlugen, realisiert werden können, blieb unklar.

Mit den neuen Kommunalverwaltungen und den zu bildenden Länderregierungen existiert derzeit ein Zuständigkeitsvakuum, die einzelnen Kombinate sind nicht mehr handlungsfähig. Derzeit verfügt der Umweltminister für die „Übergangszeit“ (Pickart) über 400 Millionen Mark.

Allein in diesem Jahr jedoch, so schätzten die Teilnehmer, benötigt die Ostseeküste der DDR zwei Milliarden Mark für Sofortmaßnahmen.

ma