KETTENTRÄUMEREIEN

■ „Die Frau am Meer“ von den Münchener Kammerspielen beim Theatertreffen

Mit Ibsens selten gespielter „Frau am Meer“ in der Inszenierung des DDR-Regisseurs Thomas Langhoff, dessen Ostberliner Regiearbeit von George Taboris „Mein Kampf“ ebenfalls zum Theatertreffen eingeladen worden war, warteten die Münchner Kammerspiele im Deutschen Theater in Ost-Berlin auf. Eine gemalte, blutrote Bühnenkulisse (von Jürgen Rose) mit einem roten Zaun, einem rotblauen Glashäuschen, einem Boot, Gartenstühlen, einem Tisch mit karierter Tischdecke und vielerlei weiteren Artigkeiten davor. Eine merkwürdige Mischung aus Biedermeier und Wildheit kündigt sich an.

Der Charakter der handelnden Personen ist von einer analogen Ambivalenz zwischen Selbstbeschränkung und Ausbruchssehnsucht geprägt. „Die Frau vom Meer“ mit Namen Ellida Wangel (Cornelia Froboes) ist mit einem braven Biedermann (Claus Eberth) verheiratet, der zwei Töchter aus erster Ehe hat und wohnt in einem schnuckeligen Heim in einem Fjord. Dennoch fühlt sie sich nicht wohl: als jemand, der einst an der Küste wohnte, sehnt sie sich zurück nach der Gewalt des offenen Meeres, kann die Schwüle des Fjords nicht ertragen, träumt von einem Seemann (Manfred Zapatka), dem sie einst die Treue gelobte. Ihr verständnisvoller Ehemann versucht, das Gespenst in ihr zu bannen, er will sogar mit ihr an die Küste ziehen. Sie indessen fordert noch mehr, nämlich die Lösung der Verbindung, um in freier Entscheidung zwischen ihm und dem wieder aufgetauchten Seemann zu wählen, der sie aufs Schiff holen will. Ihr Ehemann gibt sie schließlich frei, und als dann der Seemann auftaucht, entscheidet sie sich gegen ihn und für ein Verbleiben im Heim.

Thomas Langhoff hat diese Märchendrama betont unterkühlt und als realistisches Kammerspiel inszeniert. Völlig ausgespart ist die triebhafte Diemension des Konfliktes, die „dunkle“ Seite der Frau wird nur durch ein Fußwaschbecken vor ihrem Glashaus markiert. Der Seemann ist ein recht unkämpferischer Draufgänger, dem man sein „ich kann nicht anders“ nicht glauben mag. Und ebenso wenig der Frau ihre Entscheidung: Das Ethos der Verantwortung scheint plötzlich doch stärker gewesen zu sein.

Ein liebliches Schäferspiel ist entstanden, in dem jeder still vor sich hin von etwas anderem träumt: Die größere Tochter träumt von einem Gang in die Welt, von Bildung und großem Leben, der Oberlehrer träumt von einer Verbindung mit ihr, der Bildhauer träumt von einem Modell für eine Meerjungfrau - und nur sie, die bisher immer Barfüßige, steht am Schluß fest in ihren Spangenschuhen. Nichts geht auf, alles bleibt in der Schwebe - vielleicht macht gerade das den Reiz dieser Inszenierung aus.

Michaela Ott