„Da ist plötzlich eine Bombe explodiert“

■ In der DDR beginnt die Enttabuisierung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern / Erste Initiativen gegründet, doch es fehlt an Unterbringungsplätzen, und Therapieangeboten / Westberliner Einrichtungen ohnehin völlig überlastet / Senatorin Klein: „Vorhandenes Beratungsangebot reicht aus“

Bauch- und Unterleibsschmerzen, Bettnässen, Stottern, Ängste und Aggressionen - Symptome, die bei Kindern, vor allem bei Mädchen, Alarmsignale sein können. Dank dem Engagement betroffener Frauen wird sexueller Mißbrauch seit Jahren in der BRD und West-Berlin thematisiert, seit kurzem findet die Auseinandersetzung mit dem Thema auch in einer breiteren Öffentlichkeit statt. In der DDR galten solche physischen und psychischen Anzeichen bislang als Verhaltensstörungen. Die Möglichkeit, daß die eigenen Väter, Onkel, Nachbarn oder auch Betreuer die Täter sind, war bis vor wenigen Monaten undenkbar - auch für die Fachleute. „Mir fiel es wie Schuppen von den Augen“, beschreibt eine Ostberliner Psycholgin ihre Eindrücke von einem Kongreß der Westberliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KiZ) im Februar dieses Jahres. Jetzt beobachtet sie die Symptome durch ein „anderes Brillenglas“, entdeckt Phallussymbole und andere Hinweise auf sexuellen Mißbrauch in Kinderzeichnungen, inszeniert Tagesabläufe in der Puppenstube, um Näheres über die Beziehung zum Vater zu erfahren.

Die materiellen Rahmenbedingungen sind mehr als primitiv. Unerschwinglich ist zum Beispiel spezielles Spielmaterial, wie anatomisch ausgebildete Puppen, mit denen kleinere Kinder ihre Erlebnisse leichter ausdrücken können. Seit Februar hat die engagierte Psychologin 20 Bücher und Aufsätze zum Thema gelesen, die sie in West-Berlin ausleiht oder aus eigener Tasche bezahlt. Auch auf sie kommen immer mehr Schulen und Heime mit der Bitte um Informationsveranstaltungen zu. Es sei „wie eine Bombe, die explodiert“, nach jedem Vortrag schicken die ErzieherInnen neue Kinder in die Sprechstunde, bei denen sie sexuellen Mißbrauch vermuten. Ein großes Problem ist für sie die Frage der Unterbringung. „In unsere Heime kann man die Kinder, die vom Täter getrennt werden müssen, eigentlich nicht schicken“ - aber Alternativen gibt es bisher nicht. Jetzt hofft sie, daß ihr Antrag auf eine Beratungsstelle sowie eine sozialtherapeutische Wohngruppe bei der „Vergabe dubioser Bauten“ berücksichtigt wird.

Im Stadtbezirk Mitte versuchen die MitarbeiterInnen des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes und der Kinderneuropsychiatrie, mit einer Zeitungsannonce und mit Aushängen in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen auf das Problem des sexuellen Mißbrauchs aufmerksam zu machen. Berndt Schemel, Psychologe im Kinder- und Jugendgesundheitsschutz, äußert allerdings auch seine Bedenken vor einem allzu schnellen Schritt in die Öffentlichkeit. „Ich habe Angst davor, Erwartungen zu schüren, die nachher nicht erfüllt werden können.“ Gerade beim Umgang mit sexuellem Mißbrauch ist die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema unerläßlich. Durch Herumexperimentieren und unüberlegtes Eingreifen wird sich der Schaden, der den Kinden schon durch den Mißbrauch zugefügt wurde, noch erhöhen. Doch wo sollen sich die Professionellen in der DDR weiterqualifizieren, um die Signale der Kinder zu erkennen und um ihnen helfen zu können? Die materiellen Voraussetzungen müsse der Staat schaffen, entsprechende Anträge einiger PsychologInnen und ÄrztInnen liegen bereits bei den Stadtbezirksräten. Bei der fachlichen Weiterbildung hofft man auf entsprechende Einrichtungen in West-Berlin.

Doch die sind selbst völlig überlastet. Die Beratungsstelle „Wildwasser“ kann bis September keine Mädchen mehr annehmen. Die fünf Beraterinnen sind an die Grenze der Belastbarkeit gelangt, von Januar bis April hatten sie bereits doppelt so viele Erstgespräche mit Mädchen geführt wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Mädchen werden in der Regel ein bis zwei jahre betreut und - wenn es zum Prozeß gegen den Mißbraucher kommt - auch während des Verfahrens begleitet. Mußten sie bisher schon über ein Jahr auf einen Gerichtstermin warten, wird es jetzt noch länger dauern, da die Gerichte wegen innerdeutscher Rechtsangelegenheiten überlastet sind. Täglich werden bei „Wildwasser“ etwa fünf Mütter abgewiesen, die mit einer oder mehreren Töchter in der Beratungsstelle anfragen. Nur noch Mädchen, die sich selbst melden, werden angenommen. Die Zufluchtswohnung, in der bis zu sechs Mädchen unterkommen können, ist ständig belegt. Im Gegensatz zu „Wildwasser“, die einen feministischen Ansatz vertreten und eine Anlaufstelle für betroffene Frauen und Mädchen sind, will „KiZ“ alle Familienmitglieder erreichen und bietet - als einzige Stelle in West-Berlin - auch Therapien für Täter an. Für Ariane Ehinger, eine der sechs Mitarbeiterinnen, ist eine Umorientierung in der Arbeit - mehr Aufdeckung, weniger Therapie - unumgänglich. Einzelarbeit mit Kindern wird nicht mehr in dem Maße geleistet werden können. KiZ bemüht sich um die Zusammenarbeit mit Kindertherapeutinnen, die sich mit sexuellem Mißbrauch befassen und Kinder langfristig betreuen können. Anfragen von Schulen, Kindertagesstätten und Heimen müssen zum Teil schon abgelehnt werden.

Nicht nur die Weiterbildung selbst überlastet die wenigen Einrichtungen speziell zu sexuellem Mißbrauch; mit jedem Schritt Aufklärungsarbeit erweitert sich der Kreis der Kinder und Familien, die langfristig betreut werden müßten in West- wie in Ost-Berlin.

Das Engagement Westberliner PolitikerInnen hält sich bislang in Grenzen. Familiensenatorin Klein hat, wie sie kürzlich in einem Rundfunkinterview zur Beratungssituation bei Wildwasser erklärte, für das Problem des sexuellen Mißbrauchs „zunächst überhaupt keinen Notstand zu versorgen“. Das vorhandene Angebot reiche aus, der Senat könne neben der Förderung der vorhandenen Einrichtungen keine Extramittel zur Verfügung stellen - die Öffnung der Grenzen erfordere Investitionen in andere Projekte. Sie verweist auf die Erziehungsberatungsstellen in der Stadt und hofft - ungeachtet aller Zahlen und Entwicklungstendenzen, daß das Problem des sexuellen Mißbrauchs eine „zeitweilige Erscheinung ist, die nicht zur Dauereinrichtung wird“. Ein absolutes Defizit sieht Frau Klein in dem Angebot an Fortbildungsveranstaltungen, doch auch hier könne der Senat das bestehende Angebot nicht erweitern.

Das bescheidene Interesse von Seiten des Senats an der Arbeit zu sexuellem Mißbrauch spürte KiZ bereits an anderer Stelle: Eine „Lehrerhandreichung“, die schon lange in den Schulen ausliegen sollte, hängt seit fast zwei Jahren im Senat fest - unter anderem deshalb, weil Schulräte einige Bemerkungen „zu anrüchig“ fanden.

Im Bezirksamt Charlottenburg treffen sich einmal monatlich MitarbeiterInnen verschiedener Ämter, um sich mit dem Problem des sexuellen Mißbrauchs auseinanderzusetzen, dem sie in ihrer pädagogischen Arbeit täglich begegnen. „Wir müssen die eigenen Leute fitmachen, nicht nur an die Beratungsstellen delegieren“ - für Wiltrud Schenk, Sozialarbeiterin in der Beratungsstelle für Geschlechtskrankheiten, ist ein Nebeneinander der Stellen, die mit sexuellem Mißbrauch konfrontiert werden, zwingend notwendig. So können Mißbrauchsdelikte früher aufgedeckt werden, wenn sich die MitarbeiterInnen der Familienfürsorge (die im Schnitt 120 Familien betreuen) oder die LehrerInnen im Bezirk intensiv mit der Mißbrauchsproblematik beschäftigen. Die Kinder erwarten von der Person Hilfe, der sie sich zuerst anvertrauen. Neben der Aufdeckung einzelner Fälle kann in Schulen oder Kindertagesstätten auch präventive Arbeit geleistet werden. Längerfristig müsse, so Wiltrud Schenk, ein Netz von dezentralen Beratungsstellen und Therapieeinrichtungen im Stadtbezirk geschaffen werden, um gerade kleineren Kindern lange Wege zu ersparen. Auch im Bezirksamt stehe die Parteilichkeit für die Kinder an erster Stelle, vor den Interessen der Eltern und denen des Amtes. „Wenn von oben nicht geblockt wird, kann ganz viel passieren“ - doch alles, was passiert, leisten die SozialarbeiterInnen zusätzlich zu ihrer übrigen Arbeit. Während einige Teams in der Kinder- und Jugendarbeit ganz aktiv zu sexuellem Mißbrauch arbeiten, ist das Problem in anderen Stadtbezirken „nicht vorhanden“. Das Verleugnungsphänomen ist nicht nur eine „Ostmacke“.

Der Handlungsbedarf ist da, nicht nur für die professionellen HelferInnen. Vielleicht wäre es auch für die Vertreter des Staates eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, aus welchen „Keimzellen“ sich das neue Deutschland entwickelt: aus Familien, in denen Tausende von Männern ihre Kinder sexuell mißbrauchen.

Claudia Haas