Der Duft des noch nicht zivilisierten Lebens

■ * Peter Mussbachs „Totenhaus„-Inszenierung in Brüssel

Ein großer Saal. Sonst nichts. Die Bühne des Theatre de la Monnaie zeigt das krasse Gegenbild zur klassizistischen Pracht des Zuschauerraums: die triste Gräulichkeit eines sibirischen Straflagers, die Welt des gefangenen Dostojewski, des aus politischen Gründen verurteilten „Aufrühers“. Verlumpte Sträflinge, die Aufseher in Uniform des kaiserlichen Rußland: Zaristischer Realismus. Unternahm Herbert Wernicke mit seiner Totenhaus-Inszenierung vor einem halben Jahr in Mannheim die Transposition des gegen die asiatische Despotie gerichteten Textes in die Sphäre Franz Kafkas, so beließ es Peter Mussbach in seiner Brüsseler Inszenierung beim originalen Handlungsrahmen. Aber in ihm präsentiert er die genaueste Choreographie der zum Nicht-Handeln verurteilten Personen: die großen und kleinen Gesten der Gequälten, deren Leben da vergeudet wurde, die Verzweiflung und das Verzagen, den schieren Überlebenswillen und die Deformationen bei den Zusammengepferchten. Nur an Grausamkeiten gegenüber Mitgefangenen scheinen sie noch ihren kleinen Spaß zu haben; das ist die einzige Unterhaltung in einem Leben des Mangels, der Bewegungsarmut, des drohenden Wahnsinns, der Hospitalismusschäden. Die Körper prallen aufeinander im Zwang und bei der Zwangsarbeit. An einem nicht enden wollenden Kiefernstamm, den sie abrinden müssen, tobt sich der staatliche Strafgedanke aus, Sisyphosarbeit wird auch an einem Seil verrichtet, das aus dem Unendlichen kommt und kein Ende nimmt.

Der Komponist Leos Janacek entschied sich angesichts des Stoffes für ein Libretto ohne dramatische Story (und gelangte so in den zwanziger Jahren zu einer der Grenzüberschreitungen der Moderne). Was somit an äußerer Spannung fehlt, das hohlt Mussbach als Innenspannung in den einen Innenraum: Im Gefängnishof konzentrieren sich die verschiedenen Temperamente, hier breitet sich die Skala der Gefühle aus, die Janaceks Musik so nachdrücklich ausstellt. Von dieser Musik strömt der Duft des noch nicht zivilisierten Lebens. Auf faszinierende und schreckliche Weise läßt sie eine Nähe zur Erde spüren, die noch nicht kultiviert wurde. So wurde sie zum Vorbild für manch folkloristische Opernkomposition in Osteuropa. Aber gegenüber dem verordnet Epigonalen (oder aus vorauseilenendem Gehorsam in die Traditionslinien des national gefärbten sozialistischen Realismus Gestellten) bleibt Janacek das Authentische. In seiner Musik erscheinen Schrecken und Verheißung noch im Tot - ein glücklicher Fall der Musikgeschichte des 20.Jahrhunderts.

Sylvain Cambreling leistete in Brüssel ganz und gar funktionale Arbeit: Gestützt auf das durchaus leistungsfähige Orchester der „Munt“ und das vorzügliche Ensemble, wie es für die auch ohne alle Starrollen auskommende Oper Aus einem Totenhaus nun einmal nötig ist, beschränkt sich der Chefdirigent der Brüsseler Oper auf eine ganz und gar nicht-dirigistische Zeichengebung. Er setzt seine Bewegungen präzise und weich zugleich, verzichtet auf das sonst obligate Show-Brimborium. Altmodisch gesagt: Er dient der Sache optimal. So trifft bei dieser neuen Brüsseler Opernproduktion wieder einmal das Geschick eines Regisseurs mit den beständigen Qualitäten der Nationaloper zusammen - und heraus kommt jenes bemerkenswerte Musikthater, um dessen Willen Brüssel seit Jahren gerühmt wird.

Auf daß das Theatre de la Monnaie in den nächsten Jahren seinen Ruf erhalte und mehre, wurde bereits jetzt der 1992 anstehende Direktionswechsel öffentlich erläutert. Für den nach Salzburg wechselnden Gerard Mortier soll der Komponist Bernard Foccroulle aus Liego nach Brüssel kommen. Viel mehr als allgemeine Ausführungen zur „Oper als demokratischem Platz in der Gesellschaft“ und das Bekenntnis zur Fortsetzung einer differenzierten Konzeption für das hauptstädtische Musiktheater ließ sich Professor Foccroulle bislang nicht entlocken und so weiß niemand, ob Mortiers erfolgreiche Linie eher fortgesetzt werden soll oder ob doch stärkere Impulse in Richtung der Neuen Musik gesetzt werden. Mortier aber wird die verbleibenden zwei Jahre seiner Direktion nutzen, um einen kompakten „Ring“ (an vier Abenden nacheinander) mit Herbert Wernicke zu realisieren, die belgische Erstaufführung von Hans Zenders sperriger OperStephan Climax und die Uraufführung von John Adamas neuem Zeitstück Achille Lauro.

Frieder Reininghaus