Zu gescheit und aufgeklärt

■ Salvatores „Lektionen der Finsternis“ von Annegret Ritzel in Wiesbaden uraufgeführt

Gaston Salvatore, der gebürtige Chilene mit dem Ziehvater Allende, studierte während der Apo-Zeit in Berlin. Photos zeigen ihn an der Seite Rudi Dutschkes. Nach den wilden Jahren gründete er zusammen mit Hans Magnus Enzensberger die Zeitschrift 'Transatlantik‘, seinen Theaterstücken war unterschiedliches Glück beschieden. Erst mit Stalin kommt nach Taboris Inszenierung der Durchbruch. Lange ist das noch nicht her. Jetzt hat er Lektionen der Finsternis geschrieben und ist zur Wiesbadener Uraufführung aus Venedig angereist, seiner dritten Heimat.

Ein Zufall, daß fast gleichzeitig der mutmaßlich letzte KZ -Scherge in Stuttgart der deutschen Gerichtsbarkeit übergeben wird. Denn in Salvatores Stück geht es um einen SS -Arzt, der in Auschwitz Experimente an Juden durchführte. Nach dem Zusammenbruch setzte er sich ab und leitet seither unter jüdischer Identität als Simon Friedmann ein Hospital im Urwald Zaires. Er könnte ein Nachfahre Albert Schweitzers sein, gäbe es nicht Anzeichen, daß er seine Experimente jetzt an den schwarzen Patienten durchführt. Da kommen israelische Fahnder als Delegation des Roten Kreuzes getarnt in den Urwald: Der blinde Tzad, als Kind ein Opfer des Arztes; Dr. Leo Milkin (Wolfgang Ziemssen) verlor Frau und Tochter in Auschwitz; die junge Haja (Dinah Helal) hat das Dritte Reich nicht mehr erlebt und will gerade deshalb besonders eifrig herausfinden, wer Dr. Friedmann in Wirklichkeit ist. Am Ende identifiziert Tzad ihn als den SS -Arzt Kurtz. Aber das Opfer will keine Rache, im Gegenteil. Tzad schmiegt sich wie in einer Liebesszene an den KZ-Arzt und Matthias Barner spielt das so, als habe der Blinde seine Gutgläubigkeit aus den Kindertagen im KZ nie ganz abgelegt. Karl Jürgen Sihler ist ein alternder und müder Urwaldarzt, der über dem Schicksal zu stehen scheint. Beide sind von Salvatore so angelegt. Sich den Arzt als SS-Monstrum zu denken, fällt schwer - Unbehagen kommt auf: Ob Salvatore in seiner Umkreisung der Schuldfrage nicht doch etwas zu gescheit und aufgeklärt vorgegangen ist? Will er die Nazi -Verbrechen mit allen Untaten der Weltgeschichte vergleichen? Etwa mit der Schuld des amerikanischen Arztes im Dschungel Vietnams. Auch er arbeitet jetzt im Urwaldhospital seine Schuldgefühle ab. Oder stimmt es wirklich, daß die Israelis nach dem Sechstagekrieg die Erben der Nazis wurden, wie Salvatore die junge Haja sagen läßt?

Salvatore will mit seinem Stück gegen ein alttestamentarisches „Auge um Auge“ argumentieren und begibt sich dabei in gefährliche Nähe einer Relativierung jeglicher Schuld. Ein halbgares Stück, auch in anderer Hinsicht. Denn es zieht ohne erkennbare Spannungsbögen vorüber und manches wirkt überflüssig - etwa die brutale Bettgeschichte der Israelin mit dem Amerikaner. Als Vorlage benutzte Salvatore die Erzählung eines englischen Schriftstellers polnischer Herkunft - Joseph Conrad. In seiner um die Jahrhundertwende geschriebenen Erzählung Herz der Finsternis findet sich

-wie häufig bei Conrad - eine Ahnung des abgrundtiefen Wahnsinns, der in Hitler Gestalt annehmen sollte: Unmenschliche Barbarei, die im Gewand zivilisatorischen Fortschritts deherkommt; jener „muntere Tanz von Tod und Geschäft“ (Conrad), der schon der Kolonialisierung Afrikas seinen grausamen Stempel aufdrückte. Sein Herrenmensch Kurtz ist skrupelloser Agent einer englischen Handelsgesellschaft, der für Elfenbein über Leichen geht.

Daß Gaston Salvatore den Bogen weiterspannt und Kurtz in der Urwaldatmosphäre als Nazi-Arzt wieder auferstehen läßt, ist schlüssig. Aber das Stück wird durch die Kollision von Thema und Atmosphäre fast zerrissen - keine leichte Arbeit, das diskursive Thesenstück im Mantel einer rituell aufgeladenen Urwaldoper ohne Verluste zu inszenieren. Annegret Ritzel geht geschickt vor und wird durch das Bühnenbild unterstützt. In kürzester Zeit entstehen durch Gazevorhänge intime Situationen, die sich sofort wieder zu einem weiten Urwaldplatz mit Containern ausweiten. Verhindern konnte sie nicht, daß die Urwaldatmosphäre durch ihre sorgfältige Inszenierung des Figurengeflechts übertönt wird. Achim Busch spielt wendig den Babba, einen schwarzen Krankenpfleger, der an animistische Mächte glaubt. Wenn er trommelt, hat man allerdings nie den Eindruck in Zaire zu sein und daß aus dem Urwald Gefahr drohen könnte, glaubt man nicht. Modeste (Manfred Kranich) hat europäischere Züge und ist der treue Diener des Urwaldarztes. Ausgerechnet er erschlägt ihn am Ende, weil er von den Experimenten an seinen Brüdern erfahren hat.

Jürgen Berger

Gaston Salvatore: „Lektionen der Finsternis“, Staatstheater Wiesbaden. Regie: Annegret Ritzel. Ausstattung: Johannes Leiacker. Die nächsten Aufführungen: 5., 12. und 15. Juni.