Mad Cows and Englishmen

■ Rätselhafte Rinderseuche in Großbritannien / Mögliche Übertragung auf den Menschen nicht ausgeschlossen

Britisches Rindfleisch ist das beste. Das behauptet die britische Fleischindustrie in ganzseitigen Zeitungsanzeigen. Sie versucht zu retten, was kaum noch zu retten ist. 43 Prozent der Briten haben Rindfleisch vom Mittagstisch verbannt. Vergangene Woche strichen über 2.000 Schulen „Beef“ in jeder Form vom Speiseplan.

Grund für den Boykott der Rindviecher ist die „Schwammförmige Rinder-Enzephalopathie“ oder „bovine spongioforme Enzephalopathie“ (BSE), eine Epidemie, die sich in Windeseile in Großbritannien ausgebreitet hat. Die Seuche, die im Volksmund „Verrückte-Kuh-Krankheit“ heißt, wurde erst im November 1986 entdeckt. Landwirtschaftsminister John Gummer erklärte im April vor dem Londoner Unterhaus, daß inzwischen 69 Prozent der britischen Rinderherden davon befallen sind, das heißt, mindestens ein Tier pro Herde ist daran eingegangen. In Wales sind es 80 Prozent und in Schottland gar knapp 90 Prozent.

Über die Krankheit ist wenig bekannt. BSE befällt das Gehirn der erkrankten Tiere und verwandelt es in eine „schwammförmige Masse“. Das Heimtückische daran ist, daß sie erst nach dem Tod der Tiere durch eine Hirnuntersuchung einwandfrei diagnostiziert werden kann. Klinische Symptome Stolpern, Gleichgewichtsstörungen, unberechenbares Verhalten - treten erst vier bis sechs Jahre nach der Ansteckung auf. Die Krankheit verläuft immer tödlich. Bisher sind 14.000 Rinder an BSE gestorben.

Veterinärmediziner sind ratlos, weil das Immunsystem der Tiere nicht auf die Krankheit reagiert. Das veranlaßte sie zu der Vermutung, daß sich die Krankheitserreger im genetischen Material „verstecken“ und deshalb keine Antikörper gebildet werden. Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, daß BSE nicht durch Bakterien oder Viren, sondern durch einen „unkonventionellen Erreger“ hervorgerufen wird. Die einzige Verbindung, die bisher festgestellt werden konnte, ist die Nahrung: Die erkrankten Tiere hatten Futter erhalten, dem Schafsinnereien beigemischt waren. Ray Bradley vom „Central Veterinary Laboritory“ in Weybridge, das dem Landwirtschaftsministerium untersteht, erklärte, daß die Briten eine „Nation der Milchtrinker“ seien. Deshalb müssen den Kühen tierische Proteine zugeführt werden, sagte er. Bei Schafen gibt es eine ähnliche Gehirn- und Wirbelsäulenerkrankung: Serapie. Viele Tierärzte vermuten, daß BSE durch ungenügend behandelte Innereien von Serapie-infizierten Schafen ausgelöst wird.

Untersuchungen haben bisher keinen Hinweis darauf erbracht, daß BSE „vertikal“ von der Kuh auf das Kalb oder „horizontal“ innerhalb einer Herde übertragen werden kann. Bradley fordert allerdings weitergehende Studien, um diese Theorie zu erhärten. Falls sie bestätigt werden sollte, rechnet er damit, daß die Krankheit bis Ende der neunziger Jahre besiegt werden könne.

Wegen der langen Inkubationszeit, während der sich die kranken Rinder durch nichts von ihren gesunden Artgenossen unterscheiden, landen viele infizierte Tiere auf dem Mittagstisch. Es gibt - noch - keinen Beweis, daß BSE auf Menschen übertragen werden kann. Allerdings gibt es auch keinen Gegenbeweis. Wissenschaftler halten den fleischfressenden Teil der Bevölkerung durch gegensätzliche Gutachten im ungewissen. Der Veterinär-Pathologe Brian Sheahan von der Dubliner Universität wies darauf hin, daß jahrzehntelange Untersuchungen bei Schafen ergeben haben, daß Serapie nicht auf Menschen übertragbar sei. Die bei Menschen auftretenden Formen der Enzephalopathie - wie etwa die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder das GSS-Syndrom - sind in Großbritannien nicht häufiger als in Australien, wo Serapie völlig unbekannt ist. Da das genetische Element sowohl bei Serapie als auch bei BSE längst nicht erforscht ist, bleibt jedoch ein großer Unsicherheitsfaktor.

Das „Royal Veterinary College“ in Großbritannien hat festgestellt, daß BSE auf Mäuse übertragen werden kann, wenn die Nager mit Hirngewebe der erkrankten Rinder gefüttert werden. Anfang des Monats ist in Bristol ein Kater an BSE gestorben. Es war das erste Mal, daß ein Fleischfresser davon befallen wurde. Professor Richard Lacey von der Universität Leeds empfiehlt denn auch eine Radikalkur. Er fordert die Notschlachtung aller Rinderherden, bei denen ein BSE-Fall aufgetreten ist. Das wären immerhin sechs Millionen Tiere. Außerdem rät er seinen Landsleuten, die jünger als 50 Jahre sind, auf den Verzehr von Rindfleisch zu verzichten. Wegen der langen Inkubationszeit hätten ältere Menschen nicht so viel zu befürchten. Die Alten sehen das jedoch anders: Laut einer Umfrage des 'Independent‘ geht der Rindfleischboykott quer durch alle Altersgruppen.

Die Bundesrepublik hat bereits im April den Import britischen Rindfleischs untersagt, obwohl die Europäische Gemeinschaft lediglich ein Verbot für Rinderhirne und Innereien beschlossen hatte. Die UdSSR geht ganz auf Nummer sicher. Sie hat vor vier Wochen nicht nur den Import britischen Rindfleischs, sondern auch sämtlicher Milchprodukte eingestellt. Schafs- und Ziegenfleisch fallen ebenfalls unter das Embargo. Für die britische Fleischindustrie ist das ein harter Schlag. Gerade auf den osteuropäischen Markt wurden große Hoffnungen gesetzt. „Das könnte jetzt durch das Importverbot, das wissenschaftlich völlig ungerechtfertigt ist, zunichte gemacht werden“, befürchtet ein Sprecher der Industrie. „Das ist offensichtlich aus politischen Gründen geschehen.“ Von den sowjetischen Maßnahmen sind auch biotechnische Unternehmen betroffen. Das Embargo umfaßt nämlich auch Stiersperma, Kuheier und Embryos. Auf diesem Gebiet gehört Großbritannien zu den führenden Nationen und verfügt über ein florierendes Exportgeschäft.

Minister Gummer hält das alles für Panikmache. Er beschwört die Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit, weiterhin britisches Rindfleisch zu essen. Um sein Vertrauen zu demonstrieren, zwang es seine vierjährige Tochter Cordelia, vor surrender Fernsehkamera einen Hamburger zu verspeisen. Gummers Tory-Parteifreunde wollten angesichts dieser öffentlichen Zwangsernährung nicht kneifen und vertilgten in der Unterhauskantine einen Berg Tartar. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit konnte die mediengerechte Pantomime jedoch nicht beitragen.

Von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Gummersche Lobpreisung britischen Rindfleischs jedenfalls gänzlich ungetrübt. Selbst der von den Tories dominierte Landwirtschafts-Ausschuß bremste den Minister und ordnete eine umfassende Untersuchung an, die heute begann. Die Labour Party wirft der Regierung Verzögerungstaktik vor. Obwohl BSE seit über zwei Jahren meldepflichtig ist, erhalten Bauern erst seit vergangenem Februar eine Entschädigung für kranke Tiere. Seitdem sind die Fälle sprunghaft angestiegen. Der Verdacht liegt nahe, daß das Fleisch infizierter Tiere vorher in die Läden gelangt ist, weil sich die Bauern nicht ruinieren wollten.

Viele britische Wissenschaftler prophezeien, daß sich die BSE-Epidemie demnächst auch unter Großbritanniens sieben Millionen Hauskatzen ausbreiten wird, weil bis Ende 1989 das Fleisch infizierter Rinder zu Katzenfutter verarbeitet wurde. Spätestens dann muß Gummer seinen Rücktritt einreichen. Die Briten sind nämlich nicht nur Milchtrinker, sondern auch Katzenfreunde.

Ralf Sotscheck