Volksentscheid über den Volksentscheid

■ „Demokratie-Initiative 90“ legt der Volkskammer 35.000 Unterschriften vor / Verändert Volkes Wille künftig direkt oder nur über die „Parteischiene“? / CDU will „provisorisches Grundgesetz“ aus der 49er Verfassung und dem Entwurf des Runden Tisches zimmern

taz: Nach dem Treffen des Internationalen Dialog-Forums in Achberg am Bodensee Ende vergangenen Jahres ist die „Demokratie-Initiative 90“ im Januar erstmals an die DDR -Öffentlichkeit getreten. Sie folgte dem Achberger Ansatz zur Koordinierung einer internationalen Bewegung zur Volksgesetzgebung. Demnächst wollt Ihr mit 35.000 Unterschriften vor die Volkskammer treten. Mit welchem Ziel?

Ralf Donner: Alle möglichen Leute sammeln Unterschriften. Jetzt sammelt auch das Neue Forum für einen Volksentscheid über die Verfassung. Wenn sich jetzt nicht alle demokratischen Kräfte darum kümmern, einmal dieses Mitspracherecht in der Verfassung zu verankern, dann sammeln wir in zehn Jahren noch Unterschriften ohne irgendeine Relevanz für die Politiker. Wir meinen, wenn wir für 16 Millionen DDR-Bürger eine Million Unterschriftenlisten verbreiten, können wir davon ausgehen, daß die Öffentlichkeit Bescheid weiß. Mit den Unterschriften wollen wir einen Volksentscheid herbeiführen über einen Verfassungsartikel zur Volksgesetzgebung. Dafür können verschiedene Entwürfe zur Diskussion stehen. Einer davon sollte unser Vorschlag sein. Die ersten 35.000 Unterschriften wollen wir am 24. Mai übergeben. Wir möchten, daß die Parlamentspräsidentin herauskommt zu uns, und ihren Standpunkt äußert. Alle Fraktionen bekommen von uns Schreiben mit der Bitte, das Anliegen der Demokratie -Initiative 90 zu unterstützen und darüber zu beraten, ob der Vorschlag in der Volkskammer diskutiert werden soll.

Glaubst du, mit der Idee der Volksgesetzgebung, die noch über den Verfassungsentwurf des Runden Tisches hinausgeht, heute noch etwas bewirken zu können? Der Staatsvertrag entsteht in Eilverfahren, und die Hürden werden vom Geld, von Eigentumsfragen, von sozialen Bedingungen gesetzt. Von Demokratie-Mechanismen ist bislang nicht die Rede.

Die DDR hat sich in die Diskussion über Artikel 23 oder Artikel 146 ziehen lassen. Artikel 23 regelt einen Weg zur deutschen Einheit. Artikel 146 besagt, und in dieser Interpretation stimmen wir auch mit bundesdeutschen Verfassungsrechtlern überein: Unabhängig davon kommt es, wenn die Teilung Deutschlands aufgehoben ist und verzichtet wird auf die im Krieg verlorenen Gebiete, zu einer neuen Verfassung. Es sei denn, der Bundestag beschließt eine Verfassungsänderung, die den Artikel 146 eliminiert. Offensichtlich wird es auch in der DDR eine Übergangsverfassung geben. In der Koalitionsvereinbarung steht es, und die Volkskammerdiskussion beweist es, daß die CDU ein „Provisorisches Grundgesetz“ aus der 49er Verfassung und dem Entwurf des Runden Tisches zimmern will. In der 49er Verfassung ist die Volksgesetzgebung drin. Unser Entwurf aktualisiert die damalige Regelung, indem er Erfahrungen der Schweiz und anderer westeuropäischer Länder berücksichtigt. Anliegen der Demokratie-Inititative 90 ist auch, die Volksgesetzgebung in die Länder- und Kommunalverfassungen hineinzubringen. Bei der Erarbeitung der Landesverfassung Sachsens wird viel von der Verfassung Baden-Württembergs abgeschrieben.

Dort steht die Volksgesetzgebung auch drin, aber in einer Weise, die kaum zu praktischen Ergebnissen führt. Alle anderen Länder, die auf die bundesdeutschen Vorbilder spekulieren, gehen bei den Kommunalverfassungen in dieser Frage leer aus. Deshalb bieten wir unsere Mitarbeit an.

Seid Ihr an der Erarbeitung der Landesverfassung Sachsen beteiligt?

Nein. Es gibt den Entwurf der Gruppe der 20 und den der Räte der Bezirke. Die Arbeitsgruppe, die über beiden Entwürfen sitzt, gehört der paritätischen Regierungskommission Baden-Württemberg/Sachsen an. Ich frage mich, was sie dort soll. Ich war bei der konstituierenden Versammlung dabei und habe meine Mitarbeit für den Punkt Volksgesetzgebung angeboten. Bis jetzt hat sich noch nichts getan, und die Landesverfassung soll bis zum Sommer stehen.

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches sieht auch einen Volksentscheid vor.

Nach 750.000 Unterschriften und ohne die erste Stufe der Volksinitiative, die unser Entwurf vorsieht. Wir sehen ein dreistufiges Verfahren vor, damit man bereits mit relativ wenigen Stimmen an das Parlament herantreten kann. Um ein Volksbegehren in Gang zu setzen, fordert die Schweizer Verfassung für acht Millionen Wähler 100.000 Unterschriften. Wir schlagen für zwölf Millionen DDR-Wähler 300.000 bis 500.000 Unterschriften vor. Ein entscheidender Punkt ist die Diskussionszeit. Eine Konsequenz aus Erfahrungen mit dem Mißbrauch von Volksentscheiden in der deutschen Geschichte ist, genügend Zeit und Öffentlichkeit zu gewähren, damit Für und Wider ausreichend Gelegenheit haben, ihre Positionen darzustellen.

Welche Argumente sprechen gegen den Volksentscheid?

Die schärfsten Gegenargumente kommen aus der Bundesrepublik. Wir würden politische Entscheidungen hinauszögern, sagen die einen; andere meinen, wenn wir so leben wollen wie im Westen, sollen wir uns keine Extras anmaßen. In der DDR gibt es nicht diese kontroverse Diskussion, aber Vorbehalte. Hauptargument ist, der DDR -Bürger sei nach diesen 40 Jahren nicht mündig.

Die Manipulierbarkeit ist ein verbreitetes Argument. Die traurigste Erfahrung der Weimarer Republik ist, daß Hitler die ganze Macht übertragen bekam, als am 23. März 1933 der Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte. Vielfach wird auch die Kompetenz der Bürger in Frage gestellt. Ich meine aber, daß zum Paragraphen 218 zumindest alle Frauen kompetent sind. Wehrdienst, Umweltschutz, Anschluß an die BRD - das sind alles Fragen, die unmittelbar die Lebensinteressen aller betreffen. Und wenn es um Einzelfragen geht, ist es im Parlament auch nicht besser. Da müssen Experten ran, und die Abgeordneten entscheiden, wie es ihnen die Experten zuarbeiten.

Wir meinen, mit ausreichender Diskussionszeit und breiter Öffentlichkeit ist eine besonnene Entscheidung des Volkes möglich.

Interview: Detlef Krell

Kontaktadressen: Demokratie-Initiative 90, Haus der Demokratie, Bernhard-Göring-Str. 152, Leipzig, 7030, Telefon: 31 21 02; Ralf Donner, Rothenburger Str. 36, Dresden, 8060