Die Hauptstadt schluckt eine Idylle

■ Siedlung Spruch in Neukölln: Das Ende einer Gemeinschaft / Manche der Bewohner sind dort geboren, doch nach 60 Jahren Pacht soll die Siedlung dem sozialen Wohnungsbau weichen / Bezirkspolitiker wollen Mittwoch den Bebauungsplan ändern - doch das hat kaum Sinn

Neukölln. Rechtlich hatten sie schon verloren, bevor es vor Gericht ging. Nur jetzt hat auch ein Richter bestätigt, daß die neue Besitzerin die Pachtverträge nicht verlängern muß und die Bewohner der Siedlung Spruch ihre 117 Häuser folglich längst hätten verlassen müssen - nämlich schon bis zum 31. März. Auf das idyllische 83.000-Quadratmeter-Areal sollen 400 Wohnungen gebaut werden - gefördert im sozialen Wohnungsbau, verspricht zumindest die Besitzerin.

Vor fast allen Parzellen hängen seit einem Jahr Transparente. Und würden sich die meisten Parolen nicht wie brave Kindergedichte reimen, würden sie an die linke Hausbesetzer-Szene der 80er Jahre erinnern. Hinter den dicht bewachsenen grünen Hecken wohnen mehrere Generationen Neuköllner. Manche der über 300 Bewohner wurden gar auf der Siedlung geboren. Doch nun droht die Vertreibung: 59 Jahre lang wurden die Pachtverträge immer nur ein Jahr verlängert

-allerdings mit dem Versprechen der ehemaligen Besitzerin Ilse Callas, daß alle Pächter bis an ihr Lebensende auf der Siedlung wohnen könnten. Nun aber verkaufte Callas‘ Tochter vor eineinhalb Jahren den kleinen südwestlichen Zipfel Neuköllns für, so Gerüchte vor Ort, mehr als 20 Millionen Mark an die „Treuhand und Verwaltungs GmbH Controbau“. Und die Firma vom Kurfürstendamm 100 interessierte nur, was schwarz auf weiß vorliegt: kündbare Pachtverträge. Alle Bewohner wurden deshalb bereits zum 31.März dieses Jahres gekündigt.

Ein Sechstel der Pächter sollen ihre Häuser inzwischen verlassen haben. Geblieben ist die große Mehrheit resigniert oder wütend. Wie zum Beispiel die 53jährige Ruth Darling. Sie wohnt seit 13 Jahren in der Siedlung und ist jetzt auf alle sauer: Auf die ehemalige Besitzerin, die verkaufte, auf die „Controbau“, die spekulieren würde, auf Gesetze, die nicht für Bürger gemacht seien, und auf die Parteien, besonders die AL, „die mit ihrem Grün“. Von den Alternativen hat sie nur einen kurzen Brief bekommen. „Wir können auch nichts dazu sagen“, sei alles, was ihr mitgeteilt worden sei, erzählt sie enttäuscht.

Peter Frauböse (49), seit 47 Jahren Spruch-Siedler, heißt ein anderer enttäuschter Nachbar. Von der ehemaligen Besitzerin hatte er erwartet, daß sie die Grundstücke an die Pächter verkauft. Denn auch das soll eines ihrer Versprechen gewesen sein: Die Siedler haben Vorkaufsrecht. „20 Millionen hätten wir auch bezahlt, die Bank hätte uns Kredit gegegeben.“ Doch „Controbau“ habe wohl noch ein Bündel Scheine draufgelegt, vermutet Frauböse.

Die „Controbau“ hat für die selbstgebauten Häuser Entschädigung und Ersatzwohnungen angeboten. Doch die Bewohner verlieren mehr als nur das Dach über ihrem Kopf. Manche wohnen seit der Gründung 1931 auf diesem Flecken. Und seitdem hat sich dort eine soziale Gemeinschaft entwickelt wie nur selten in einer Großstadt. Den Alten wird beim Saubermachen, im Garten und beim Einkaufen geholfen. Bei Feten werden sie aus ihren Häusern geholt. Die Briefe an „Controbau“ werden gemeinsam geschrieben. Die Wege und Beleuchtung der Siedlung haben die Bewohner selbst angelegt. Eine Familie zieht verlorengegangene Igel auf, eine andere vom Aussterben bedrohte Uhus. „Zwei- bis dreimal im Jahr schlüpfen Junge“, erzählt Frauböse. Drei Pflegefälle gibt es in Spruch - die müßten nun ins Heim. Auch die Mutter von Frau Darling, die 81jährige Helene Wahlmann. Ihr Arzt, Ghassem Yaraghchi, der sie seit sieben Jahren behandelt, befürchtet, daß ein Umzug für seine „Patientin mit Lebensgefahr verbunden“ wäre. Doch Darlings Bitte, deshalb in Spruch wohnen bleiben zu dürfen, provozierte nur eine Schreiben des „Controbau“ Rechtsanwaltes Andreas Deuble mit einer anderen Kündigungsdrohung: „Wir mahnen die Aufnahme einer weiteren Person als vertragswidrigen Gebrauch der Pachtsache ab.“ Die 81jährige solle innerhalb der nächsten sechs Wochen ausziehen.

Doris Hartwiger, „Controbau„-Mitarbeiterin, dementiert den demütigenden Umgang mit den Pächtern gegenüber der taz zuerst: „Wir werden doch kein altes Mütterchen vor die Tür setzen.“ Doch dann - konfrontiert mit dem anwaltlichen Schreiben, gesteht sie: „So ist die Rechtssituation. Wenn man uns querkommt, wehren wir uns.“

Mittlerweile muß sich „Controbau“ aber nicht nur mehr gegen „querkommende“ Pächter wehren. Auch Politker wollen in letzter Minute bremsen, was möglichweise nicht aufzuhalten ist. Am kommenden Mittwoch will die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) den Bebauungsplan so ändern, daß die „Controbau“ nicht mehr 400 Wohnungen bauen dürfte, sondern nur noch Einfamilienhäuschen. Die Änderung soll mit der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen abgestimmt sein. Baustadtrat Wolgang Branoner (CDU) begründet die Bebauungsplan-Änderung damit, daß Spruch „erhaltenswert“ sei. Und in Spruch sei Wohnungsbau trotz immenser Wohnungsnot nicht nötig, denn Neukölln baue bis 1999 10.000 Wohnungseinheiten, und das würde für den Bezirk genügen, so Branoner.

Falls der Bebauungsplan geändert werde, kündigte der bestimmende Gesellschafter von „Controbau“, der 48jährige Diplom-Betriebswirt Bernd Porsch, rechtliche Schritte an. Und „Controbau„-Geschäftsführer Wolfgang Koeppe (42), Bankkaufmann, sieht dem voraussichtlichen BVV-Beschluß gelassen entgegen: „Lassen Sie das Grundstück erst mal geräumt sein, dann sehen wir weiter.“ Der Wohnungsbau sei schließlich poltitisch gewollt.

Daß der BVV-Beschluß den Bewohnern vielleicht gar nicht hilft, ahnt auch Baustadtrat Branoner: „Die Siedler haben kein Recht, dort wohnen zu bleiben. Zivilrecht können wir nicht außer Kraft setzen.“ Doch wenn die Siedler auf jeden Fall gehen müssen, was soll dann der Bau von Einfamilienhäusern? Dann doch lieber 400 Sozialwohnungen?

Der Vorsitzende der 'Interessengemeinschaft Siedlung Spruch e.V.‘, Wolfgang Schäfer (43), auf der Siedlung geboren, hat mittlerweile alle Hoffnung verloren. Mitte Mai setzte er zusammen mit seiner 24jährigen Tochter zwar noch einen im Winter zugelaufenen Igel auf dem Komposthaufen aus, doch wenn er erzählt, daß Anfang Mai seine erste Rose blühte, dann hört sich das verdammt weit weg an...

Dirk Wildt