DAS AUFGESPANNTE OHR

■ Ausschweifendes Reden, brillante Sünden, totale Absolution

Ihr seid nicht katholisch und dürft folglich nicht beichten? Seid niemals frei von Schuld? Schleppt Euch unter der Last ungesühnter Vergehen durchs Leben? Ihr klagt und zweifelt, hadert und zagt? Arme Protestanten! Ihr müßt Euch direkt an Gott wenden, kennt nicht die Gnade der Vermittlung, müßt alles mit IHM allein ausfechten, ihn bereden und bestechen. Welch unerbittliche, unmenschliche Existenz! Es gibt keinen schöneren, wärmeren, menschlicheren Ort auf der Welt als den Beichtstuhl. Man betritt ihn als Sünder und verläßt ihn als reine und freie Seele. Die Beichte ist durch nichts zu ersetzen und lebt durch die Vorfreude auf die nächste. Frei von Schuld durchs Leben zu gehen, und sei es auch nur für einige Minuten, sollte jeder Menschenseele vergönnt sein.

Ich war fünf, als ich das erste Mal beichtete. Bis zu diesem Zeitpunkt pflegte ich in der Kniebank hockend mit fest geschlossenen Augen heimlich aufgesparte Karamellbonbons zu verzehren, während meine Eltern und Geschwister sich vorne am Altar den „Leib Christi“ abholen durften. Um dem ein Ende zu machen, beschloß man, mich zur sogenannten Frühkommunion zu schicken. Vor die heilige Kommunion hat Gott die Beichte gesetzt, denn nur im Stand der Unschuld kann man den Herrn empfangen. Mein Beichvater, groß und mild, weichleibig und weißhaarig, trug unten eine lange schwarze Kutte und oben eine Brille. Wir kannten uns, denn er hatte mir zuvor einige Geschichten aus der Bibel erzählt und mir erläutert, warum der Leib Christi klein, rund, dünn und beliebig vermehrbar sei. Meine Mutter schob mich zu ihm in den Beichtstuhl und schloß die Klapptür mit dem Versprechen, draußen auf mich zu warten, bis alles vorüber sei.

Drinnen war nichts zu erkennen, nur durch ein kleines Gitterfensterchen sah ich groß und weiß, ganz zum Hören aufgespannt, das inkarnierte Ohr Gottes; abgesehen von seiner körperlichen Abwesenheit war deutlich die Stimme meines Beichtvaters zu vernehmen, der mich unnötigerweise nach Alter, Geschlecht und dem Zeitpunkt meiner letzten Beichte fragte. Zum Knien zu klein, erklomm ich die Bank und gab bereitwillig Auskunft, worauf er mich sanft und gelangweilt fragte, ob ich mir irgendwelcher Vergehen, die man als Sünden bezeichnen könne, bewußt sei. Mein Sündenregister erschien mir schmal, dürftig und unbedeutend. So starrte ich in das Ohr des Lauschenden und erfand in rascher Folge eifrig und beflissen einen ganzen Katalog von Sünden, mit denen ich Eindruck zu machen hoffte. Gewissen Vergehen versuchte ich dabei durch drastisches Ausmalen eine besondere Schärfe zu verleihen, so behauptete ich, ich bisse meiner Schwester beim Herr- und Hund-Spielen so lange ins Bein, bis es blutete, schlösse mich im Badezimmer ein, um Zahnpastatuben leerzudrücken, und äße die Wurst vom Brot, während ich das Brot selbst (die Gottesgabe schlechthin!) liegenließe. Ich gab vor, im Kindergarten Spielzeuge und Süßigkeiten zu entwenden. (Ich war nie in einem Kindergarten!) Eine gewisse Ungeduld meines Beichtvaters feuerte mich an, rascher und zugleich ausführlicher zu beichten. In Anbetracht der Tatsache, daß man „in Gedanken, Worten und Werken“ zu sündigen pflegt, behauptete ich, fürchterliche Wörter zur Beschimpfung meiner Geschwister zu verwenden, und ging dann zu den Gedankensünden über, indem ich mich auf Lustlosigkeit beim Abendgebet und einen Mangel an Inspiration beim Formulieren sogenannter freier Fürbitten berief, die damals bei uns zu Hause in Mode gekommen waren. Das Ohr saugte milde und unterschiedslos auf, was ich zu sagen hatte, hin und wieder streute die Stimme des Beichvaters beiläufig Bemerkungen ein wie: „Nun, das wird der Herrgott schon verzeihen“ oder „Der Herr weiß um diese Dinge“, bis er meinen Redeschwall schließlich seufzend, aber sehr bestimmt unterbrach mit den Worten: „Drei Vater Unser und drei Gegrüßet Seist Du Maria!“ Triumphierend verließ ich den Beichtstuhl, wo meine Mutter, sichtlich beunruhigt, auf mich wartete, während ich, beseelt von dem Gefühl, reinen Herzens zu sein, laut meine Gebete sprach.

Von nun an war ich zwei widerstreitenden Empfindungen ausgesetzt: zum einen dem Bedürfnis, den Zustand der Freiheit von Sünde (ich fühlte mich großartig!) mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten, zum anderen den Wunsch, so bald wie möglich in den Beichtstuhl zurückzukehren, alte Sünden zu wiederholen, unzählige neue dazu zu erfinden, meine Schwachheit brillant zu demonstrieren, durch den ungebrochenen Willen zur Lästerung zu bestechen, vielleicht ein höheres Strafmaß der Buße zu erlangen, so lange zu reden, wie ich wollte, um am Ende immer wieder in den Genuß der totalen Absolution zu kommen. Das Warten in einer Schlange mit anderen Wartenden in einer dunklen Kirche erhöhte noch meine Inspiration, die mir dann im Beichtstuhl zugute kam. Ich hatte sogar das Gefühl, man freue sich auf mich und hielte meine Sünden für die besten und einfallsreichsten. Meine Eltern standen meinem Bußeifer mißtrauisch gegenüber; erstens, weil sie selbst selten beichteten, was ich selbstverständlich fand, da ich sie für unfehlbar hielt; zweitens, weil ihnen die Phantasie fehlte, sich vorzustellen, ich hätte tatsächlich etwas zu beichten. Meine einzige Sorge galt meiner persönlichen Integrität im Beichtstuhl. Würde mich der Beichtvater durch das Ohr Gottes hindurch nicht doch erkennen? So versuchte ich gelegentlich, während der Beichte meine Stimme zu verstellen, oder ich veränderte mein Alter, auch weil ich Schulkindersünden ins Feld führen wollte, die für mein Alter noch nicht in Frage kamen. Je zahlreicher und variabler aber mein Sündenregister wurde, desto unbefriedigter wurde ich. Es schien mir müßig, mich bei simplen Sünden wie Futterneid, Tierquälerei oder Diebstahl aufzuhalten, denn ich meinte, den Geistlichen damit zu langweilen. Gerne wäre ich abgrundtief schlecht gewesen, schlechter als alle. Aber nur selten gelang es mir, ein höheres Strafmaß zu erwirken.

Während meiner Schulzeit richtete sich mein Ehrgeiz vor allem darauf, in die Hölle zu kommen. Eines Abends trug ich unter künstlichen Tränen meinem Vater die Ergebnisse einer angestrengten Selbstanalyse vor, die mich zu dem Resultat geführt hatte, ich müsse nach dem Tod unweigerlich in die Hölle kommen, er aber fand keine Schuld an mir und schickte mich verärgert zurück ins Bett. Die Hölle blieb mir auf immer verschlossen, denn ich war ein gehorsames Kind und zu einer wirklichen Todsünde (der einzige Garant für einen ungehinderten Zugang zur Hölle) sah ich mich damals nicht imstande, und eine im Beichtstuhl zu erlügen, war ich nicht skrupellos genug. Da die Beichte in unserer Familie keine wirkliche Tradition hatte, nutzte ich den Besuch bei der Verwandtschaft in mir fremden Städten, um bei mir fremden Beichtvätern zu beichten, dies aber nur, wenn ich sicher sein konnte, daß keiner der Geistlichen mich vorher in der Kirche bemerkt haben konnte.

Ich wollte der fremde, überraschende Sünder sein. Freisprechen mußten sie mich ja sowieso. In der sogenannten Diaspora lebend, war mir der Neid meiner Mitschüler gewiß. Während sie es noch nicht einmal bis zum Leib Christi gebracht hatten, konnte ich, wann immer ich wollte, die Vergebung aller Sünden erlangen. Daß mich einige von ihnen verspotteten, erhöhte nur das Gefühl für die Exklusivität meines Tuns. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich damit begonnen, vor jedem Beichtgang eine Liste meiner Sünden zu erstellen, und meine einzige Sorge war, ich könne sie verlieren, jemand anders könne sie finden, um sich dann im Beichtstuhl mit meinen persönlichen Sünden zu brüsten. Daher zog ich es vor, nach Erstellen der Liste diese auswendig zu lernen, um sie anschließend zu vernichten.

Wann mir tatsächlich die Freude am Beichten abhanden gekommen ist, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wahrscheinlich aber fällt dies zeitlich mit dem Eintritt eines jungen, progressiven Kaplans in unsere Gemeinde zusammen, der uns bei sogenannten Jugendgottesdiensten den Leib Christi in Form von Käse- und Wurstbroten schmackhaft machen wollte und beteuerte, es komme lediglich auf den Gestus des gemeinsamen Essens an, was man dabei esse, sei eigentlich egal. Was das Beichten beträfe, so sei das wirklich als nichts anderes zu betrachten als ein sehr offenes Gespräch von Mensch zu Mensch. Und wirklich wurde fortan nicht mehr in der Kirche gebeichtet, sondern man betrat einen weißgestrichenen Raum im Pfarrhaus, in dem unverbindlich und leger zwei große bequeme Sessel einander gegenüberstanden. Eintritt der Beichtavter, schlank und freundlich, trägt unten eine sportlich geschnittene Hose, oben einen Rollkragenpullover mit Brille, setzt sich, streckt vertraulich die Hand aus und sagt: „Setz dich, ich brauch‘ mich ja nicht vorzustellen, wir kennen uns ja schon, nicht wahr?“ Keine Nennung von Alter und Geschlecht. Dann beugt er sich nachsichtig nach vorne und möchte über alles sprechen, was mich bedrückt, vor allem über meine Probleme. Zu diesem Zeitpunkt muß ich verstummt sein, denn mir fiel tatsächlich keine einzige Sünde ein, und meine Probleme, fand ich, gingen ihn nichts an.

Er favorisierte auch die Form des sogenannten gemeinsamen Bußgottesdienstes, wo alle Gläubigen in Reih und Glied in ihren Bänken auf Zettelchen vorgedruckte Bußgebete miteinander heruntermurmeln und kollektiv freigesprochen nach Hause gehen dürfen. Es war klar: Gott hatte zu dieser Zeit bereits sein persönliches Interesse an mir verloren und ich damit das meine an ihm.

Jahre später trieb mich Neugier in eine der kleinen Bußkabinen im Petersdom. Das rote Lämpchen leuchtete nicht, der Stuhl war also frei. Ich betrat ihn, weil ich wissen wollte, ob stimme, was draußen angeschrieben stand, nämlich, daß der Geistliche imstande sei, die Beichte in sechs verschiedenen Sprachen abzunehmen. Er war es. In fließendem Deutsch fragte er mich, wie alt ich sei, welchen Geschlechts und wann ich die letzte Beichte abgelegt hätte. Ich konnte mich nicht erinnern.

Felicitas Hoppe