Terror, Elend und Luxus

■ Zu dem Roman „Haiti Cherie“ von Hans Christoph Buch

Diese Historiker lügen wie gedruckt“, sagt Tante Erzulie, die Voodoo-Göttin der Liebe, im ersten Teil des Romans Haiti Cherie von Hans Christoph Buch. Sie erzählt, sagt sie zum Erzähler, der nichts weiter als ihr Medium ist, aus einer Zeit heraus, „als die Kunst des Lügens noch nicht erfunden war“. Es ist ein scheinbar naives, mündliches Erzählen, das keine Zeit- und Raumgrenzen anerkennt. Tante Erzulie tritt in wechselnder Gestalt auf. Sie berichtet Liebes- und Staatsaffären aus viereinhalb Jahrhunderten. Sie hat die Ankunft Christoph Columbus‘ ebenso erlebt wie den Tod Hitlers im Bunker. Sie war immer in Kontakt mit den entscheidenden Persönlichkeiten. Francis Drake, der französische Kommissar Sonthonax auf Haiti, Charles Baudelaire gehören zu ihren Liebhabern. Ihre Bedeutung wird aus der Perspektive von Tante Erzulie beiläufig relativiert.

Im zweiten Teil des Romans erzählt nicht mehr Tante Erzulie. Unter dem Titel Die Herren der Finsternis werden die Verhältnisse auf Haiti zwischen 1910 und 1986 beschrieben. Die Information tritt hier deutlich in den Vordergrund. Es wird nicht mehr versucht, Geschichten zu entwickeln. Es geht um die endlose, immer gleiche, kaum variierte Geschichte vom Terror und dem Luxus der herrschenden Cliquen und dem Elend der Bevölkerung. Vielleicht kann die enorme Informationsfülle dieser über weite Strecken eher reportageartigen Beschreibung die Unwissenheit über die Zustände auf Haiti etwas verringern.

Tante Erzulie, glaubt man ihren eigenen Worten, hat in der Weltgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt, die viel zu wenig bekannt ist. Ganz nebenbei betreibt Buch hier eine Entmystifizierung des herkömmlichen Geschichtsverständnisses. Er löst die historischen Details in der Doppeldeutigkeit der Fiktion auf. Die Geschichtsgroteske, die er entwirft, gehorcht dem Prinzip der permanenten Steigerung. Am schönsten sind ihm jene Passagen gelungen, in denen Tante Erzulie ihr Verhältnis zu dem französischen Kommissar Sonthonax erzählt. Die Darstellung eines Jakobiners, der von der Geschichte immer wieder überrascht wird, verbindet sich mit einer großen Detailkenntnis der historischen Entwicklung Haitis und der Beschreibung des Zusammenpralls zweier Kulturen zu einem Bild von schauerlicher Komik und surrealer Effekte. Buch bewegt sich hier als Schriftsteller vollkommen frei in der Geschichte und in seinen Phantasien über diese Geschichte.

Aber die Groteske gehört zu jenen gefährlichen literarischen Formen, die leicht ein Eigenleben entfalten. Wenn der Groteske der Aspekt des Unheimlichen fehlt, wird sie schnell zum bloßen Witz. Von seinen eigenen Einfällen, aus denen immer neue Einfälle entspringen, fortgerissen, beachtet Buch manchmal nicht genügend die Ökonomie des Erzählens. Die Masse erschlägt dann das Detail. Das Detail bleibt ein flüchtiges Moment im vorwärtsstürmenden Erzählen, wird nicht ausgeschöpft, gewissermaßen nur horizontal erfaßt. Das ist auch deshalb schade, weil Buchs Stärke, das Unwahrscheinlichste als normal zu beschreiben, die ausufernde Phantasie an die Stelle einer stagnierenden Wirklichkeit zu setzen, sie förmlich einzuspinnen und selbst zum Teil seiner Erfindung zu machen, so nicht richtig zum Zug kommen kann.

Es ist dies natürlich auch ein „objektives“ Problem und dazu ein ethisches. Die Frage, ob es für eine Geschichtsgroteske Tabus geben muß oder ob ihr alles „frei“ zur Verfügung steht, kann nur praktisch beantwortet werden. Die Art der ästhetischen Lösung wird darüber entscheiden, ob es zum Beispiel möglich ist, Tante Erzulie als Eva Braun in Hitlers Bunker auftreten zu lassen, ohne das Gefühl einer peinlichen Entgleisung hervorzurufen. Nicht zufällig äußert sich gerade in diesem Abschnitt eine merkwürdige Hemmung, den Hitler-Mythos wirklich zu demontieren. Buch baut hier, natürlich immer aus der Perspektive von Tante Erzulie, direkte moralische Urteile ein, weil er selbst der Kraft der alles verschlingenden Phantasie, die keine Moral kennt und nicht kennen darf, wenn sie mit einem solchen Totalitätsanspruch auftritt, nicht mehr über den Weg zu trauen scheint. Aber mit der Wertung kommt unweigerlich der real existierende Hitler ins Spiel, und damit ist der Maßstab verrückt: Die Erfindung wird daran gemessen, ob sie der wirklich abgelaufenen Geschichte „gerecht“ wird. Das ist natürlich ihr Ende. Die geschichtliche Realität verurteilt in diesem Moment jede denkbare Phantasie zur völligen Bedeutungslosigkeit.

Daß es Buch trotzdem immer wieder gelingt, aus der Geschichte Geschichten zu machen, die scheinbar mühelos das vorliegende Material integrieren, so daß die Frage, was denn nun „wahr“ oder „erfunden“ ist, sich gar nicht mehr stellt, im Gegenteil, die sogenannte „Wahrheit“ der Geschichte, die ja ohne Interpretation und damit ohne Unschärferelation nicht zu haben ist, selbst durch die phantasievolle Überhöhung und Verlängerung parodiert, das heißt in Bewegung gesetzt wird, enthält auch ein Moment der Aufklärung, indem die Geschichte aus der Höhe der freien Abstraktion heruntergeholt, vermenschlicht wird. Die karikierende, antipsychologische Darstellung der sogenannten großen Männer der Geschichte, die Tante Erzulie auf ihren Irrfahrten trifft, ist auch - und das ganz beiläufig - eine Darstellung der Pathologie der Macht und der von ihr erzeugten Verformungen des Denkens und Fühlens.

In Buchs Sprache, die mehrdeutig mit Elementen der Trivialliteratur spielt, spiegelt sich nicht nur die sentimentale, übertrieben achtungsvolle oder rein personale Betrachtungsweise geschichtlicher Prozesse. Die heruntergekommene Sprache des „historischen Romans“ wird in den besten Passagen des Buches zu einem ganz unerwarteten Erkenntnismittel. Buch gelingt dann die Paradoxie einer ernsthaften Parodie. In der parodistischen Verwendung sprachlicher Klischees, vor allen Dingen des automatisch „passenden“ Adjektivs, wird die verbogene Wahrnehmung, die sich hinter dieser Sprache verbirgt, offengelegt. Buchs marionettenhafte Figuren stellen sich selbst die Welt, die sie zerstören, oft in einer märchenhaft verschleiernden Sprache dar. Haiti Cherie ist der zweite Band einer Romantrilogie, deren erster, Die Hochzeit von Port-au -Prince, 1984 erschienen ist.

Martin Kurbjuhn

Hans Christoph Buch: „Haiti Cherie“. Roman. Suhrkamp Verlag 1990, 248 Seiten, 32 DM.