Tränen in beiden Augen machen blind

■ Erinnerungen an Irmtraud Morgner

Lachen galt Irmtraud Morgner als ein wirksames Mittel, um im befreienden Kampf gegen die Schrecken der Gegenwart „offensiv“ zu bleiben: „Riesige Autoritäten - die riesigste: der Tod - können nur mit einem weinenden und einem lachenden Auge angegangen werden. Tränen in beiden Augen machen blind, wehrlos, führen zur Selbstaufgabe, in den Selbstmord.“ Heute klingen diese Worte der Morgner aus einem Interview vor sieben Jahren wie ein Trost für alle, die sie kannten, sei es persönlich oder als Leser ihrer Bücher. Die DDR -Schriftstellerin starb am 6.Mai in Ost-Berlin an Krebs. Irmtraud Morgner war erst 56 Jahre alt; die DDR hat eine mutige und intelligente, weit über die Grenzen ihres Heimatlandes bekannte Autorin verloren.

Am 22.August 1933 wurde Irmtraud Morgner als Tochter eines Lokomotivführers in Chemnitz geboren. Von 1952 bis 1956 studierte sie in Leipzig Germanistik und Literaturwissenschaft, arbeitete daraufhin zwei Jahre als Redaktionsassistentin an der Zeitschrift 'Neue Deutsche Literatur‘ und lebte seit 1958 als freie Schriftstellerin in Ost-Berlin. 1975 erhielt sie (zusammen mit Eberhard Panitz) den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR.

Irmtraud Morger gehörte - neben vielen anderen bekannten Autoren wie z.B. Christa Wolf, Volker Braun, Stefan Heym und Helga Königsdorf - einer Schriftstellergeneration an, die die Gründung der DDR bewußt miterlebt hat. Als überzeugte Marxistin kritisierte sie in ihren Werken detailgetreu die Mißstände im „real existierenden Sozialismus“ der DDR -Gesellschaft, die eine Verwirklichung der (theoretischen) Ziele des Sozialismus/Kommunismus nicht gestatten. Das Haupthindernis für eine vom Humanismus geprägte Welt sah die Morgner stets in der verhängnisvollen Symbiose der Geschlechter mit erstarrter Rollenverteilung. Die Stellung der Frau in der Vergangenheit und in der Gegenwart zieht sich wie ein thematischer Leitfaden durch ihre Werke.

Im Westen von vielen Feministinnen gefeiert, verstand Irmtraud Morgener Emanzipation nie als Allein-Kampf der Frauen gegen die Vorherrschaft der Männer, sondern stets als Umwälzung der bestehenden Machtverhältnisse in einem Gesellschaftssystem. Auf die Frage, ob es in der DDR „Feminismus“ gäbe, antwortete Irmtraud Morgner 1983: „Ich halte mich für eine Feministin im Sinne von Marx, und meine Bücher werden gelesen. Das ist ein Zeichen für mich, daß ich gebraucht werde, daß ich schon sage, was andere Leute auch riechen oder fühlen. Marx hat gesagt, daß sich der gesellschaftliche Fortschritt exakt an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts messen läßt. Und wenn der die Sache so hoch eingebunden hat, dann kann das doch kein Nebenwiderspruch sein, oder?“

Schon in ihrer ersten Erzählung von 1959 Das Signal steht auf Fahrt setzt sie sich mit den Problemen der Gleichberechtigung von Mann und Frau auseinander, ebenso im ersten Roman Ein Haus am Rand der Stadt (1962) und in der Erzählung Notturno (1964). In Rumba auf einen Herbst (1964) geht es um ein Aufeinanderprallen der Generationen, wobei die Autorin letztlich Partei für die Juden ergreift. Die nun folgenden Werke markieren mit der Hochzeit in Konstantinopel (1968) eine Abkehr der Forderungen des „sozialistischen Realismus“. Das neue Interesse am kreativen Eigenwert der Phantasie der Autorin wird immer stärker ausgebaut: Im Mittelpunkt steht die Frau mit Phantasie, die Poetin und Geschichtenerzählerin.

Die Frauen in der Gauklerlegende (1970) oder in Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers (1972) erkennen, „daß der einseitige männliche Rationalismus im Begriff ist, die Welt zu zerstören“. Die Heldinnen der Romane reagieren auf diese Erkenntnis mit Phantasie: Sie erbauen sich Traumwelten, lassen legendäre (Frauen -)Gestalten der Vergangenheit wieder auferstehen oder versuchen, sich mit ihrer hexischen Hälfte zu vereinen. Besonders in ihren Hauptwerken, den beiden letzten, monströsen Romanen - Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974) und Amanda. Ein Hexenroman (1983) - erweist sich die Morgner als fabulierlustige Scheherazade, die ihre ungeheuerliche Informationsfülle nur in Montageromanen bändigen konnte.

In der Trobadora Beatriz verläßt eine Minnesängerin die mittelalterliche Welt der Männer und flüchtet in die DDR, weil sie hofft, dort als Frau würdigere Bedingungen anzutreffen. Doch auch hier wird sie enttäuscht. Amanda knüpft als zweiter Band einer geplanten Trilogie an die Trobadora Beatriz an, insofern die Trobadora hier die Gestalt eines Fabelwesens, einer Sirene, angenommen hat. Sirene Beatriz versucht, die wahre Geschichte der Laura Salman aufzuschreiben. Laura, die aufopferungswillige berufstätige „Normalfrau“ und Mutter ist wie alle Frauen nur ein „Halbwesen“. Ihre andere, im Arbeitsprozeß unbrauchbare Hälfte heißt Amanda und lebt, abgespalten, ein hexenhaftes Leben im Hörselberg. Laura erkennt, daß sie als Laura-Amanda Salman nur dann ein wirklich sinngebendes, selbstverwirklichtes Leben führen kann, wenn sie sich mit ihrer „hexischen Hälfte“ verbinden kann. Laut Morgner waren Hexen Frauen, „die die ihnen von der Gesellschaft gezogenen Grenzen überschritten“, und Laura scheitert genau an diesem Punkt. Sie versucht zwar, sich mit Hilfe alchemistischer Destillationen eine Insel zu schaffen, doch es gibt keinen privaten Weg zum ungeteilten Leben. Wurde die „Menschwerdung“ der Frau und des Mannes imTrobadora -Roman noch von progressiver Gesetzgebung und der Aufgeschlossenheit einzelner partnerschaftlich einander zugewandter Individuen erwartet, so zeigt der Amanda -Roman, daß „Menschwerdung“ nur stattfinden kann durch eine universelle Reintegration alles dessen, was die bisher „männlich“ bestimmte Geschichte als „weiblich“ mißachtete und unterdrückte.

Zu gerne wüßten wir, was uns die Sirene Beatriz im „zweiten Teil“ ihrer Aufzeichnungen - dem dritten Band der Trilogie also - über die „lange Geschichte“ des „ganzen“ Hexensieges erzählen wollte. Aber vom letzten Band der Trilogie sind bisher nur wenige Kapitel (meist durch Lesungen der Autorin) bekannt geworden. Eine Veröffentlichung des gesamten letzten Buches steht leider nicht in Aussicht. Dies ist umso bedauerlicher in einer Zeit politischer und geschichtlicher Umwälzungen, in der Appelle von Schriftstellern an das Bewußtsein eines jeden einzelnen von nationalistischem Geschrei und pekuniären Heilsversprechen übertönt werden.

Sabine Bergmann

Alle Bücher von Irmtraud Morgner sind im Luchterhand Verlag erschienen.