Das Tor: Höhepunkt der totalen Emotion

■ Der mexikanische Fußballspieler Hugo Sanchez

P R E S S - S C H L A G Seit der 31jährige Mexikaner Hugo Sanchez vor neun Jahren nach Spanien ging, ist er dort unumstritten Torjäger Nummer eins. In den ersten vier Jahren bei Atletico Madrid gab er sich mit insgesamt 77 Toren noch relativ bescheiden, aber nach seinem skandalumwitterten Wechsel zum Lokalrivalen Real ging er in die Vollen: 204 Tore in offiziellen Spielen, ein Schnitt von 36 pro Saison. In diesem Jahr brachte er es auf 38 Treffer in 38 Ligaspielen, die Krone als Europas Torjäger des Jahres kann ihm nur noch der Bulgare Stoichkov von CSKA Sofia entreißen, der in 24 Partien schon 30 Tore geschossen hatte, insgesamt aber nur 30 Meisterschaftsspiele zur Verfügung hat.

Berühmt ist Hugo Sanchez aber nicht nur wegen seiner Qualitäten als Goalgetter, sondern vor allem durch die spektakuläre Art, wie er seine Tore erzielt (Flugkopfbälle, Fallrückzieher, Scherenschläge, Absatzkicks) und eine von Gegenspielern immer wieder beklagte Fiesheit und Nickligkeit. In einem Interview mit der spanischen Zeitung 'El Pais‘ nahm er Stellung zu seiner Spielweise.

Frage: Ist Beständigkeit für Sie ein Ziel?

Sanchez: Ich glaube, daß sie das Wichtigste für einen Fußballer oder einen Künstler von internationalem Rang ist. Den Fußballspieler macht nicht das aus, was er in einem Jahr erreicht. Er kann eine brillante Saison haben, Torschützenkönig werden, den Europacup gewinnen, den goldenen Stiefel oder den goldenen Ball. Aber das sind vergängliche Dinge eines Jahres. Das schwierigste in der heutigen Welt ist, dieses Niveau über sechs, sieben, acht Jahre zu bewahren.

Sie haben den Fußball in einem Atemzug mit der Kunst genannt. Ist der Fußballer Künstler oder Arbeiter?

Ich glaube, daß er Künstler ist. Ich betrachte den Fußballspieler als einen Ballartisten, denn wir sind Spezialisten und bieten ein Schauspiel. Wir bringen viele Leidenschaften hervor, schaffen große Gefühle und machen den Menschen Freude. Ich denke, daß dies bedeutet, daß der Fußball Kunst ist.

Ist unter diesem Gesichtspunkt die Schönheit eines Tores wichtig?

Wenn man eine gewisse Perfektion in seinen Bewegungen erlangt und eine Beziehung zwischen dem, was man erreichen will und den Fähigkeiten seines Organismus herstellen kann, wird man dadurch belohnt, daß man bestimmte Sachen sehr natürlich und gelungen auf schwierige Art machen kann. Glücklicherweise haben mir meine physischen und technischen Möglichkeiten erlaubt, Bewegungen auf dem Spielfeld auszuführen, die nur wenige Spieler fertigbringen.

Hilft das auch, Verletzungen zu vermeiden?

Nun gut, ich hatte das Glück, zusammen mit meiner kleinen Schwester, die Kunstturnerin war, bei den Olympischen Spielen von Montreal dabeizusein, und ich habe während der Vorbereitung oft zusammen mit ihr trainiert. Dieser Einfluß hat mir geholfen, mehr Flexibilität, mehr Elastizität zu erlangen, sowie eine größere Fähigkeit, den Körper zu beherrschen und verschiedenartigste Bewegungen auszuführen.

Der Fußball ist aber keine einsame Angelegenheit. Man muß mit Gegnern rechnen...

Ja, die Stürmer haben es besonders schwer und spielen mit gewaltigen Nachteilen. Es existieren antisportliche Schwierigkeiten. In dieser Hinsicht ist unsere Verteidigung der Schiedsrichter. Wenn der Schiedsrichter seine Rolle schlecht ausfüllt, muß jemand mit Intelligenz versuchen, seine eigenen Mittel zu finden, um sich zu verteidigen und sich Respekt zu verschaffen. Der Abwehrspieler muß wissen, daß der Stürmer nicht nur ein Empfänger von Tritten ist. Gleichzeitg darf ein Stürmer aber nicht in einen eigenen Krieg mit dem Verteidiger eintreten, denn dann vergißt er den Ball und die Mannschaft. Es ist ein Teil der Provokation der Abwehrspieler, daß sie den Stürmer dazu verleiten wollen, sich in Kleinkriege zu verstricken. Wenn wir foulspielen, gewinnen sie die Schlacht. Aber wenn es einer versteht, die Tritte zu vermeiden und in bestimmten Augenblicken Vorteil aus einigen harten Tacklings zu ziehen, lernt der Verteidiger, daß der Stürmer stark ist. Dadurch weiß er, daß er, wenn er Tritte austeilt, auch welche einstecken muß.

Bleibt der Kopf auch klar, wenn Sie über ein Tor jubeln?

Wir sprechen von einem ganz besonderen Gefühl. Wenn du ein Tor schießt, ist das eine innere und äußere Erregung, die sich in einer fast überirdischen Art und Weise ausdrückt. Es ist die Kulmination der Anstrengungen der ganzen Mannschaft, und wenn dies geschieht, konzentriert sich in dir die Energie des gesamten Teams. Das Tor bringt in Zehntelsekunden die Gefühle der Mannschaft und des Publikums hervor. Für den, der es schießt, ist es der Höhepunkt der totalen Emotion.

Graham Turner