Leben a la carte

■ Der Tausch Ware gegen Geld findet nur noch abstrakt statt. Denn statt ein Bündel Scheine über den Tisch zu schieben, reicht man die Karte, die man dann auch prompt wieder zurückerhält: Nichts wird veräußert. Vom existentiellen Glück eines Kreditkartenbesitzers berichtet

ALEXANDER SMOLTCZYK

eep“, sagte sie und tunkte sinnend einen Würfelzucker in ihren Kaffee. Ich meinte falsch gehört zu haben, aber Marie -Jo blieb dabei: „Peep... Das gleiche Prinzip: Im Aids -Zeitalter wird Kommunikation radikal entmaterialisiert, aus Sex wird Peep, aus dem Herumhantieren mit schmutzigen, abgegriffenen Lappen die Kreditkarte. Geld stinkt - die Karte nicht!“

Ein unachtsamer Bankangestellter hatte meinen Antrag auf eine Kreditkarte in einem schwachen Moment positiv beschieden und seinen Wagemut noch auf die Spitze getrieben, indem er einen Kreditrahmen errechnete, der durch den Einheitslohn keineswegs zu rechtfertigen war. Aber wie dem auch gewesen sein mag: Ich hielt es in den Händen, dieses geriffelte Stück Plastik, auf dem bläulich schillernd eine holographische Taube eine neue Zeit transmateriellen Konsumierens verhieß. Und tatsächlich - plötzlich war alles anders. Nie wieder abgebrannt, nie wieder abhängig von diesem psychoanalytisch so dubiosen Tauschmedium, das wer weiß wer nicht schon alles vor dir in der Hand und anderswo gehabt hat, endlich bargeldfrei, endlich - ein Mensch.

18,7 Millionen Kreditkarten kursieren in Frankreich. Eine beeindruckende Zahl, die wieder einmal beweist, daß die Göttin der Moderne einen französischen Paß besitzt. Noch beeindruckender allerdings ist der Umstand, daß ein großer Teil jener Plastikgeldbesitzer offenbar eben den Geldautomaten am Boulevard Barbes benutzt, an dem ich meine Wundertaube ausprobieren wollte: 37 andere Bargeldlose standen da Schlange an einem feuchten Sonntagmorgen, samt hungrig plärrender Gören und sabbernder Köter. Bargeld einfach, schnell, bequem. Duftete es nicht irgendwoher nach Croissants? Gegen Mittag stand ich dann Auge in Auge mit der Maschine, einer von 13.000, die im Lande aufgestellt sind. „Führ‘ deine Karte ein“, flüsterte es im Display. Im Rücken spürte ich die Blicke von einigen Dutzend Hunden, Kindern und Gestreßten. „Glup“ - die Karte verschwand in der Maschine, und eine guillotineartige Pforte öffnete sich. Wieviel? Jetzt hieß es, keinen Fehler zu machen. Wie bei Einstellungsgesprächen darf die Summe nicht zu niedrig und nicht zu hoch liegen. Freund Philippe hatte erst nach wochenlangem „trial and error“ herausgefunden, daß er - aus ihm unerfindlichen Gründen - höchstens 900 Francs abheben durfte. Sobald er darüber hinaus ging, verweigerte die Maschine für den Rest des Tages die Kommunikation. Und mit ihr in unerschütterlicher Solidarität alle anderen Geldautomaten der Stadt.

Also lieber nur 200 Francs (auch wenn die Bank pro Barabhebung zehn Mark berappen würde - aber bis dahin war es noch weit). Peep, machte die Maschine und fragte nach dem Geheimcode. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es ganz still, dann ein fernes Rasseln, und angeekelt spuckte das System die Karte wieder aus: „Code inkorrekt“ - neuer Versuch nicht gestattet. Abgang unter den mißtrauischen, verdachtschwangeren Blicken von Kunden, Kindern und Kötern.

ine harmlose, untypische Anekdote natürlich. Kreditkartenbesitzer sind in der Regel glückliche Menschen, wie jener Schalterbeamte im Blumenhemd, dem ich am nächsten Tag mein Versagen beichtete: „Monsieur, das ist völlig unmöglich. Sie müssen sich vertippt haben“, meinte er und lächelte wissend wie ein Zen-Jünger, der die Wahrheit geschaut hat und für den es keinen Schatten mehr im System gibt. Auch nach mehrmaligen eigenhändigen Versuchen, die ebensowenig von Erfolg gekrönt wurden, lächelte das Blumenhemd weiter: „Ihre Geheimzahl muß falsch sein - das System macht keinen Fehler.“ Und sah, daß es gut war. Die Geheimzahl war richtig - das System perfekt: Das Paradox eines bis zum heutigen Tag ausbleibenden Erfolges kann nur durch eine Art Heisenbergscher Unschärferelation erklärt werden.

Aber wozu auch Bargeld abheben? 480.000 Geschäfte akzeptieren in Frankreich Plastikgeld. An allen 84 Kassen eines „Hypermarktes“, in jeder Tankstelle, jeder Boutique stehen praktische Kartenlesegeräte, keine Kassiererin, kein Tankwart, der nicht wüßte, wie mit geschicktem Abwischen am eigenen Hemd auch die älteste Karte wieder dechiffrierbar würde. Wer hier, in den Tempeln des Konsums, mit Bargeld kommt, wird scheel angesehen: Wer Geld hat, hat bestimmt kein Geld.

atürlich ist nicht jeder glücklich mit dem Untergang des Bargeldes. Natürlich gibt immer noch diesen abgrundtief traurigen Blick, mit dem eine Provinzverkäuferin die naive Frage quittiert: „Nehmen Sie Karte?“, weil sie sich schon wieder mit jenem käsehobelartigen Gerät herumwuchten sieht, mittels dessen die Karte auf ein Formular gepreßt wird. Und all das für 57 Francs 50... Aber das sind - wie sagt man? Friktionen, Übergangsschwierigkeiten. Letztlich verhält es sich mit den Kreditkarten wie mit der Lehre von Marx und Engels: sie wird siegen, weil sie wahr ist. Denn trotz aller Schlangen vor den Geldautomaten, trotz perfider Gebühren und allen Minderwertigkeitsgefühlen im Angesicht der Maschine es bleibt jenes existentielle Pläsier, weswegen gerade in Frankreich alles auf die Karte gesetzt wird: die Lust, nach vollzogenem Mahle nichts, aber auch gar nichts weggeben zu müssen. Nur die eigene, unveräußerliche Plastikkarte übers bekleckerte Tischtuch zu schieben - und sie wenig später unverändert wieder zurückzuerhalten. Ein Hauch von Utopie, von „Jedem nach seinen Bedürfnissen“: Nehmen ohne zu geben, im sterilen Raum entmaterialisierten Tausches.

„Sag ich doch“, meint Marie-Jo und greift zu Höherem: „In postkollektiver Zeit wird selbst der Ware-Geld-Tausch noch zum Individualakt. Das letzte materielle Medium zwischen den Leuten ist unsichtbar geworden und hat sich in digitale Zeichen aufgelöst. Großartig: Monaden statt Moneten!“