„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“

Der 90.Deutsche Katholikentag und die Opposition „Kirche von unten“ / Großveranstaltung mit dem umstrittenen Theologen Eugen Drewermann / „Berliner Erklärung“ von mehr als 8.000 BesucherInnen verabschiedet  ■  Aus Berlin Marie Wildermann

Die Initiative „Kirche von unten“ (Kvu) besteht inzwischen seit mehr als zehn Jahren. Auf dem 90.Deutschen Katholikentag ist diese Initiative abseits vom offiziellen Programm vertreten.

In mehreren großen Zelten neben dem Berliner Reichstag und in zwei Berliner Gemeinden schafft die Kvu kritische Gegenöffentlichkeit. Ihre Veranstaltungen sind gut besucht: Am Donnerstag abend verabschiedeten mehr als 8.000 Besucherinnen und Besucher die „Berliner Erklärung“ der Kvu, die wir nebenstehend in Auszügen dokumentieren. Thema des Abends war: „Kirche Macht-Moral“.

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, das war der Titel einer bekannten Rede Ingeborg Bachmanns. Die Wahrheit - das ist sehen lernen, wie die Wirklichkeit des Menschen in all seinen komplexen Zusammenhängen ist. Die katholische Amtskirche sieht das unkomplizierter.

Sie besitzt das Wahrheitsmonopol, Papst und Bischöfe, Priester und caritative Einrichtungen, das ganze kirchliche Establishment: Sie wissen, was wahr und gut ist, sie halten fest an ihrer mittelalterlichen Struktur, an einer Kirche, die - autoritär, zentralistisch und dogmatisch - als Anachronismus in der heutigen Zivilisation wirkt. Kirchensteuern sichern ihr einen gigantischen Machtapparat, der sich fortwährend selbst reproduziert. In diesem System der Kirche - so die Statements in den Diskussionsbeiträgen und Workshops zu den Themen „Kirche-Macht-Moral“ - können die befreiendsten Botschaften verkündet werden, sie müssen unwahr bleiben. Eugen Drewermann, Star der christlichen Subkultur: „Es genügt nicht zu sagen: Du sollst nicht lügen“, weil es ein jahrelanger Prozeß sein kann, mit sich selbst und mit anderen aufrichtig umzugehen. So verhält es sich mit allen Geboten des Evangeliums, das ein Idealbild vom Menschsein und menschlicher Gemeinschaft zeigt.

Aber die Kirche hat bis heute nicht begreifen wollen, daß es sich dabei um einen Weg handelt, obwohl gerade sie es doch am besten wissen müßte, gibt sie doch vor, an Christus orientiert zu sein („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“). Sie propagiert eine starre Ethik, die unfähig ist, dialektisch zu argumentieren. Erlösung wird verkündet, aber der einzelne Mensch fühlt sich in der Kirche keineswegs erlöst.

Dennoch ist für viele kritische Christen der Kirchenaustritt keine Alternative, der gemeinsame Glaube ist die Basis, und eine Ethik des Widerstandes geradezu Pflicht für alle, die die Botschaft des Evangeliums ernst nehmen, wie z.B. Lea Ackermann, engagiert gegen frauenverachtenden Sextourismus in der sogenannten Dritten Welt, und die den betroffenen Frauen praktische Hilfe anbietet.

Die Restauration unter dem gegenwärtigen Papst provoziert geradezu eine kirchliche Opposition mehr denn je. Ein breites Bündnis von Basisgemeinden und Initiativen aus allen Teilen der BRD, auch einige aus der DDR, die die Kirche an ihre Verantwortung in gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen erinnert und selbst aktiv Veränderungen in die Wege leitet: erste Schritte zur Abschaffung des Zölibats, gegen die Ausgrenzung von Homosexuellen, gegen die systematische Minderbewertung der Arbeit von Frauen, gegen Apartheid, Atomenergie und eine unmenschliche Weltwirtschaftsordnung, die tagtäglich Massenmorde verursacht.

Die „Kirche von unten“ - eine neue weltliche Linke, die sich selbst nur in Opposition zur offiziellen Kirche definiert? Die Anerkennung des menschlichen Bedürfnisses nach Spiritualität und Transzendenz: Das gibt dieser Bewegung wirkliche Chancen und Wurzeln, die verhindern, sich nur politisch instrumentalisieren zu lassen, der Eitelkeit der Macht zu verfallen. Politisches Engagement, das in einem lebendigen Glauben gründet, impliziert immer eine Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst.