„Eine Operation ohne Narkose“

Der Auftakt zur Einführung in die Marktwirtschaft: steigende Lebensmittelpreise  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Für Brot müssen die SowjetbürgerInnen künftig dreimal soviele Rubel hinblättern, Milch und Zucker werden doppelt so teuer und die Fleischpreise steigen gleich um 130 Prozent. Die Ankündigung, daß die Subventionen auf Grundnahrungsmittel im staatlichen Handel weitgehend fallen sollen, war die Sensation in der zweistündigen Rede Ministerpräsident Ryschkows am Donnerstag vor dem Obersten Sowjet.

Weitergehende Erleichterungen für ausländische Kapitalinvestoren, Reprivatisierung staatlicher Betriebe und eine Reduzierung der Staatsaufträge werden schon seit Monaten als Teil entsprechender Gesetzesprojekte diskutiert. Dabei ist sowohl an den Aufkauf kleinerer Betriebe durch ihre Belegschaften und die Überführung großer Unternehmen in Aktionärseigentum gedacht.

Daß die krisengeschüttelte Sowjetökonomie durch ein marktwirtschaftliches System ersetzt werden muß, gilt in der Sowjetöffentlichkeit schon als selbstverständlich, aber die Bevölkerung beunruhigt die Frage, wie schnell auf welchem Weg und vor allem mit welchen Opfern dies geschehen soll.

Nun hat Ministerpräsident Ryschkow eine 70prozentige Kompensation für den Kaufkraftverlust versprochen. In Zukunft soll allen Rentnern ein Zuschuß von 35 Rubel im Monat gezahlt werden. Dies ist sicher unbefriedigend.

„Das System der sozialen Absicherungen muß schon vor der Einführung der Marktwirtschaft formiert sein!“, forderte darum auch ein Redner in der anschließenden Diskussion und fügte hinzu: „An die Stelle der Schocktherapie ist nun eine Operation ohne Narkose getreten. Arbeitslosigkeit ist ein Luxus, den sich nur eine stabile und wohlhabende Gesellschaft leisten kann.“

Unrealistisch wirken Ryschkows Aussagen über die zu erwartende Arbeitslosenrate von zwei Millionen in dem Imperium von 280 Millionen BürgerInnen. Diese Prognose liegt noch unter den Schätzungen von Experten über die schon heute in der Sowjetunion versteckte Arbeitslosigkeit, von der in Mittelasien und im Kaukasus bereits zwölf bis 18 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.

Bei der Beantwortung von Fragen im Anschluß an seinen Vortrag ging Ryschkow auch auf die wirtschaftliche Seite der litauischen Frage ein. Von einer Wirtschaftsblockade Litauens könne keine Rede sein, erklärte er unter Murren im Saal: „Wir haben nur die Öllieferungen und einen Teil der Gaslieferungen eingestellt. Für die litauischen Genossen war es wichtig, daß sie einmal zu spüren bekamen, wie es ist, außerhalb unserer gemeinsamen Familie zu leben.“ Zwischenrufer wies er zurecht: „Dafür, daß es dort an Medikamenten fehlt und Bezugsscheine für Salz eingeführt wurden, muß allein die litauische Regierung verantwortlich gemacht werden.“

Ein „Versteckspiel“, warf der Wirtschaftswissenschaftler Gennadij Filschin, der im Namen der oppositionellen „Überregionalen Deputiertengruppe“ den wohl kritischsten Redebeitrag hielt, der Regierung vor: „Wir kennen heute weder das politische noch das ökonomische Programm Michail Gorbatschows!“, rief er. „Die gegenwärtige Regierung verhält sich bei der Einführung der Marktwirtschaft wie eine Katze, die gelobt, Vegetarierin zu werden“, hatte er seine Zweifel zehn Tage vorher zusammengefaßt. Daß sie ein „Chaos in die regionalen Wirtschaftsbeziehungen getragen“ habe, warf Filschin der Gorbatschow-Mannschaft am Donnerstag vor.

So habe Alexander Wlassow, gegenwärtig Präsident der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, die Abholzung großer Wälder in Sibirien verfügt, obwohl die lokalen Sowjets, denen nach der neuen Verfassung die Hoheit in diesen Fragen zusteht, aus ökologischen Gründen dagegen protestiert hatten.

Die aufmüpfigen Regionalsowjets haben Wlassow zudem mit der Androhung eines Wirtschaftsboykotts zu erpressen versucht. Filschin, zu dessen Programm auch die Streichung aller Rüstungsausgaben - ohne Ausnahmen - gehört, forderte in der Debatte, alle Planungsinvestitionen der Regierung um 40 Prozent zu kürzen und die freigewordenen Mittel bevorzugt in Produktionsmitteln und -techniken für die Konsumindustrie zu investieren.

Ein anderer Deputierter bemängelte, daß dem Ryschkow-Plan zufolge noch immer 40 Prozent der Industrie als Staatseigentum erhalten bleiben sollten, darunter auch viele verlustbringende Produktionszweige, die für ihre Standorte in den verschiedenen Unionsrepubliken eine unakzeptable wirtschaftliche und ökoölgische Belastung bedeuten.

Er forderte die Übergabe ökonomischer Eingriffsmöglichkeiten in die Kompetenz der einzelnen Republiken und mahnte: „Das gemeinsame Marktinteresse ist unsere letzte Chance, unseren Staatenbund zusammenzuhalten!“