Endlos latschen, stehen, quetschen

100.000 Teilnehmer drängeln sich beim „Turnfest der langen Wege“ / 28. Deutsches Turnfest im Einheitstaumel  ■  Aus Dortmund Bettina Markmeyer

„Das Revier ist der größte Sportplatz Europas“, sagt Landesvater Johannes Rau bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sportzentren, Fußballplätze, Hallen und Bäder gehören neben Kultur und High-Tech zu den Standards der Imageförderung fürs Ruhrgebiet. Nun ist der Riesensportplatz auch noch historisch angehaucht: in Bochum und Dortmund startete am Sonntag das 28. Deutsche Turnfest und, na? Jawohl: weil jedeR zehnte FreizeitturnerIn an gewöhnlichen Feierabenden in Magdeburg oder Zwickau die Glieder streckt, ist es das erste gesamtdeutsche Turnfest seit 1938 in Wrozlaw, damals Breslau.

Kein Redner versäumte es denn auch am Sonntag, dem Eröffnungstag des bis Pfingstsonntag dauernden Breitensportspektakels mit 100.000 TeilnehmerInnen, die über 10.000 TurnerInnen aus der DDR „herzlich“, „auf das herzlichste“ und „ganz besonders herzlich“ zu begrüßen. Walter Wallmann, Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB), konnte sich gleichwohl die übliche Portion West -Überheblichkeit nicht verkneifen. Auf dem Balkon des Bochumer Rathauses, wo er am Nachmittag bei der Banner -Übergabe des DTB dabei war, bejubelte er die Gäste aus der „heutigen DDR“, ohne jedoch die Endlichkeit der deutsch -deutschen Turnfreuden auch auf die heutige BRD zu beziehen.

Zur „Bescheidenheit“ mahnte , mäßigend von Amts wegen, der Bundespräsident. Von Weizsäcker, der im ausverkauften Dortmunder Westfalenstadion das Turnfest eröffnete, erinnerte daran, daß „ein vereintes und demokratisches Deutschland“ immer zu den großen Themen der Turnerbewegung gehörte. Tatsächlich machten sich TurnerInnen noch vor dem ersten deutschen Turnfest 1860 in Coburg die Ziele der 48er -Revolution zu eigen, standen aber nach der Reichsgründung 1871 dann weniger zur Demokratie als zum Nationalstaat, scheuten sich auch nicht, SozialistInnen aus ihren Vereinen auszuschließen und offen zur Wehrertüchtigung für zwei Kriege beizutragen. In der Weimarer Zeit war die Turnbewegung geprägt von Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterturnvereinen und den konservativen TurnerInnen, die sich denn auch 1936 ohne Widerstand von den Faschisten gleichschalten ließen. Nach dem Krieg fanden sich beide Stränge 1950 im DTB wieder. Das erste Turnfest des Verbandes fand 1953 in Hamburg statt.

Was für die einen ihr gerade beendeter Katholikentag ist, das ist für die anderen ihr Turnfest. Während im Stadion die lebenden Bilder, die vor allem Frauen und Kinder aus westfälischen Vereinen auf den Rasen brachten, begeistert bejubelt wurden, machten draußen auf der - Turnfestmeile Bier- und Imbißstände das erste Mal richtig Kasse.

Obwohl während des Turnfests auch die Deutschen Meisterschaften im Kunstturnen, in der Gymnastik, im Trampolinturnen und im Orientierungslaufen stattfinden, ist das Fest doch eine Veranstaltung des Breitensports. Alle TeilnehmerInnen können sich mit verschiedenen freigewählten Disziplinen am sogenannten Wahlwettkampf in Mannschaftssportarten wie Faustball, Prellball oder Volleyball beteiligen.

Die meisten TeilnehmerInnen kampieren auf Luftmatratzen in Schulklassenräumen, was das Organisationskomitee für „einen Zug von Abenteuerurlaub“ hält. Bei der Organisation des „Abenteuerurlaubs“ versagte das Organisationskomitee jedoch, die Stadtverwaltungen von Bochum und Dortmund halfen in letzter Minute mit eigenem Personal nach. JedeR muß über die Kosten für Quartier und Essen hinaus 55 DM Teilnehmerbeitrag und Startgelder berappen, die DDRlerInnen 55 Ost-Mark.

Noch bevor am Montag der Massensport mit Wettkämpfen und Vorführungen begann, lernten die TurnerInnen drei neue Disziplinen kennen: endlos Latschen, Stehen und Quetschen. Zwar verkaufte der Nahverkehrsverbund an Rhein und Ruhr an 62.000 TeilnehmerInnen ein Wochenticket für das „Turnfest der langen Wege“, um die völlige Verstopfung der Autobahnen zu vermeiden, doch zeigte er sich gleich am Sonntag abend in gewohnter Weise unfähig, den öffentlichen Nahverkehr auch zu bewältigen. Noch lange nach Mitternacht standen ermattete Turnwillige mit quengelnden Kindern auf Bahnsteigen in Bochum und Dortmund herum und warteten auf die stur im Sonntagsverkehr alle halbe Stunde herbeitrödelnden S-Bahnen, um sich dann ohne jeden Sportsgeist in die hoffnungslos überfüllten Züge zu boxen. Die Sportstätten liegen weit auseinander, und ob der für die nächsten Tage angekündigte „verstärkte Linienverkehr“ und die Sonderlinie des Verkehrsverbundes ausreichen werden, ist ungewiß. Für die RevierbewohnerInnen ändert sich durch das Turnfest wenig: Sie stehen angesichts der hiesigen Unfähigkeit zum öffentlichen Nahverkehr schon immer lieber im Dauerstau.