: Aus Japans Schattenreich
■ Armut im reichsten Industrieland der Welt / Japans Mafia organisiert die industrielle Reservearmee / Von Georg Blume
Noch ist der Himmel über Osaka dunkel. Die erste U-Bahn zur Börse, der viertstärksten der Welt, fährt um 5 Uhr 15. Vereinzelt rasen Lieferwagen durch die schlafende Stadt. Doch nicht alles ruht. Der Tag beginnt in Kamagasaki, im Schattenreich der Metropole.
Um fünf Uhr morgens hält Japans Mafia im Ghetto von Kamagasaki Arbeitsmarkt. Jeden Tag. Vor dem Gebäude der Stadtverwaltung, der sogenannten „Halle der Nächstenliebe“, drängen sich Hunderte von Tagelöhnern. Sie wollen nicht etwa zum Arbeitsamt, das hier in der zweiten Etage residiert. Sie verkaufen sich an die Marktherren der Yamaguchi-gumi, Japans größter organisierter Verbrecherbande. Männer jeden Alters suchen hier Arbeit für den Tag. Sie tragen schmutzige Arbeitsanzüge und abgetretene Schuhe; manche haben einen alten Bauhelm auf.
Junge Burschen mit kurzgeschorenem Schopf, ältere Arbeiter mit krummem Rücken - gemeinsam harren sie in der frühen Morgenstunde mit unbewegtem Gesichtsausdruck der Ungewißheit des Tages. Niemand spricht. Niemand antwortet auf Fragen. Eine schreckliche Ruhe liegt über der Menschenmenge.
Die Handlanger der gesetzlich und gesellschaftlich tolerierten Gangsterclans, die „tehaishi“, regieren in diesem Schattenreich. Meist sind es starke, hochgewachsene Männer in sauberen Overalls. Mit lauter Stimme geben sie ihre Angebote bekannt: sie werben mit einem Tageslohn von 11.500 Yen - etwa 130 D-Mark. Dafür wird Schwerstarbeit auf den Großbaustellen Osakas verlangt. Arbeitsverträge gibt es nicht.
Träge klettern die Männer in moderne Busse, die in den Gassen rund um das Gebäude der Stadtverwaltung geparkt sind. Für einen Tag ist ihre Arbeitskraft verkauft.
Schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden für die schwersten und gefährlichsten körperlichen Arbeiten auf dem Bau Tagelöhner eingesetzt. Als Nippons Städte in Schutt und Asche lagen, gerieten die Wiederaufbauprojekte häufig in die Hände von Spekulanten, die von der billigen Arbeitskraft der zahlreichen Obdachlosen und Flüchtlinge Gebrauch machten. Sie schlossen sich in der Yamaguchi-gumi zusammen, die schon Ende der fünfziger Jahre in Osaka als der mächtigste Bauherr galt. Noch heute sind es Tarnfirmen der Yamaguchi-gumi, die Arbeiter anheuern und auf die Großbaustellen fahren. Dort tragen die Bauarbeiter der großen, etablierten Unternehmen weiße Handschuhe, während die Männer aus Kamagasaki im Dreck schaufeln oder gefährliche Gerüstarbeiten ausführen.
Kamagasaki hat Konjunktur. Gegen sechs Uhr sind die meisten Busse abgefahren. Selten zuvor gab es in Japan ein solches Arbeitsangebot für Tagelöhner. 90 Prozent der Arbeitssuchenden kommen in der Bauindustrie unter. Die blüht in diesem Frühjahr: In Osaka entsteht ein neuer Großflughafen - auf einer künstlichen Insel, die in der Meeresbucht vor der Metropole aufgeschüttet wird. In Yokohama erfordert der viel gelobte Hafenausbau zahlreiche Arbeitskräfte, in Tokio sind es die Großbauprojekte im bisher vernachlässigten Osten der Stadt. Kamagasaki - für Japaner ein Inbegriff der Scheußlichkeit - gibt es überall. Sanya in Tokio, Kotokubi in Yokohama, Sasajima in Nagoya, Amagasaki in Nagasaki - das sind die Namen der Armenghettos im Industrieland mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt.
Kamagasaki ist das schlimmste dieser Viertel. Auf einer Fläche von nur 0,6 Quadratkilometern drängen sich 50.000 Menschen. Kamagasaki im Süden Osakas galt schon um die Jahrhundertwende als der Stadtteil der Armen und der wandernden Obdachlosen. Nach dem Krieg kamen die Landarbeiter, die auf ein neues Leben in der Stadt hofften. Heute stehen neben den Holzhütten neue Hochbauten vielgeschossige Schlafstätten für die Tagelöhner. Ein Drei -Quadratmeter-Zimmer kostet zwischen tausend und zweitausend Yen (elf bis 22 DM) pro Nacht - so billig ist die Übernachtung sonst nirgendwo in Japan.
Manche können sich auch das nicht leisten. Den Menschen, die die Nacht auf Pappkartons neben schwelenden Müllfeuern im Sankaku-koen, dem sogenannten „Dreiecks-Park“ verbringen, sieht man an, daß es für sie in dieser Stadt kein menschenwürdiges Leben mehr gibt. Sie sprechen nicht miteinander, sie grunzen und röcheln. Viele tragen Brandwunden im Gesicht, in der Kälte der Nacht sind sie dem Feuer zu nahe gekommen. Natürlich gibt es für diese Menschen keine Arbeit mehr. Hunderte schlafen jede Nacht in den Gassen der Armenstadt, sie liegen in Nischen der Häuser, in einfachen Holzverschlägen oder eben auf dem öden Sandgelände des Sankaku-koen. In Kamagasaki erfrieren jedes Jahr annähernd zweihundert Obdachlose. Von den 172, die 1987 starben, konnten 106 nicht identifiziert werden. Wieviele in ganz Japan im Elend umkommen, weiß niemand.
Knapp 1,5 Millionen registrierte Sozialhilfeempfänger zählt die japanische Regierung - zumeist alte Menschen ohne Rentenversicherung. Außerdem gibt es, nach Regierungsangaben, 1,2 Millionen Tagelöhner. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß offizielle Statistiken über das Ausmaß der Armut in Japan wenig aussagen. Christliche Organisationen schätzen die Zahl der Obdachlosen in Japan auf mehrere Hunderttausend, die Zahl der Tagelöhner ohne festen Wohnsitz liegt nach Gewerkschaftsangaben bei mehreren Millionen. Genaue Angaben fehlen, die Berechnung wird auch dadurch erschwert, daß 65 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Familien- und Zulieferbetrieben tätig sind, wo es nur selten vertraglich geregelte Arbeitsverhältnisse gibt.
Eine Sozialversicherungspflicht hat in Japan nie bestanden, alle gängigen Statistiken über den japanischen Arbeitsmarkt stammen daher ursprünglich aus Unternehmerhand. Deshalb hat auch die Lüge Bestand, es gebe in Japan 40 Millionen festangestellte Arbeitnehmer - für die Unternehmer gelten auch diejenigen als „festangestellt“, die von einem Tag zum nächsten gekündigt werden können.
Die Bewohner der Armenghettos können zumeist keinen festen Wohnsitz angeben, sie werden also auch von den Behörden nicht registriert. In Kamagasaki kommen als Unterkünfte nur die Tageshotels in Frage, die ihre Betten jeweils für eine Nacht vermieten. Wenn es einem Tagelöhner nicht gelingt, einen festen Wohnsitz nachzuweisen, ist sein Status außerhalb der Gesellschaft festgeschrieben. Denn auch für jede neue Anstellung muß der Wohnsitz angegeben werden.
Es gibt in Japan keinen Maßstab für die Armut; nur wer sie kennt, weiß daß sie existiert. Munemasa Watanabe hat die Herausforderung angenommen. Jeden Morgen um acht Uhr baut er am Dreiecksplatz in Kamagasaki einen Tapeziertisch auf und stapelt darauf alte Kleider. Im Nu umringen ihn die Armen, zerren an den Stoffen, feilschen um zehn Yen. Watanabe schaut dem Treiben gelassen zu. Seit zwölf Jahren ist er am Ort und sieht Japan von unten. „Es gibt zwei Gründe für Japans Erfolg“, bemerkt der engagierte Sozialarbeiter, „erstens hat das Land keine nennenswerten Militärausgaben und zweitens keine nennenswerten Sozialausgaben.“ 1990 beträgt das Verteidigungsbudget 6,3 Prozent und der Sozialhaushalt 17,5 Prozent des japanischen Staatshaushalts. Im Vergleich mit anderen Industrienationen ist das wenig.
In Kamagasaki gilt Watanabe als der Mann mit den besten Kontakten zum lokalen Privatkrankenhaus. Achtzig Fälle hat er in diesem Jahr vor den Arzt gebracht. Für die mühseligen Auseinandersetzungen mit dem Sozialamt, das die ärztlichen Behandlungen in jedem Einzelfall immer wieder genehmigen muß, opfert Watanabe wochentags zwischen neun und zwölf Uhr Zeit und Kraft. Der Krankenwagen von Kamagasaki ist der meistbenutzte im ganzen Land. Im Durchschnitt heult seine Sirene viermal in der Stunde, und nicht selten kommt er zu spät.
Die Toten des Ghettos sind den Lebenden nichts wert. Um sie kümmert sich nur eine japanische Schwester in der katholischen Mission, die gleich neben der Krankenwagenstation Quartier bezogen hat. Seit fünfzehn Jahren fotografiert Schwester Yuriko die Alten, die eingeliefert werden und sammelt die Urnen, die vom Krankenhaus zurückkommen. Inzwischen besitzt sie einige hundert Kästen mit Totenasche und ein großes Fotoalbum. Sie betet dafür, daß sich die Familien nach ihren verstorbenen Angehörigen erkundigen. Aber da kann sie lange warten. „So etwas gibt es nur in Japan“, meint der holländische Franziskanerpater Lukas, dessen Orden am Sankaku-koen eine Armenküche unterhält, „wer einmal in Kamagasaki landet, trägt sein Leben lang die Konsequenzen.“
Das Ghetto ist Endstation - wer hier ankommt, den hat die Gesellschaft ausgestoßen. Die Patres berichten von einem jungen Studenten, der zu ihnen kam und bekannte: „Ich liebe die Mafia, weil sie auf mich schießt, aber ich hasse die Gesellschaft, die mich nur unendlich quält.“ Er arbeitet auf dem Bau seit er die schützende Universität verlassen hat.
Das Volk von Kamagasaki ist bunt gemischt; die wenigsten sind hier geboren, die meisten vor der Gesellschaft geflohen. Pater Lukas sagt nach 30 Jahren Sozialarbeit im Reich Nippons: „Es sind grundsätzlich psychisch labile Persönlichkeiten, die in Japan zu Aussteigern werden.“ Japans Tagelöhnerviertel sind keine traditionellen Armenghettos, wo Generation auf Generation das gleiche Schicksal teilt, sondern Auffangbecken für den sogenannten „Abschaum“, die vermeintlich nicht mehr integrierbaren Gruppen der Gesellschaft. Nach Kamagasaki flüchten Menschen, die sich der Disziplin, dem Gehorsam im hierarchisch organisierten Alltag nicht mehr beugen können - der verträumte Universitätsprofessor etwa, der in einer wenige Quadratmeter großen Holzbude Obdach gefunden hat und nun dort seine „Sozialstudien“ betreibt.
Es sind stets die gleichen Gründe, die Menschen dazu bringen, im Abgrund der Großstädte Zuflucht zu suchen. Ein Mann verläßt die Familie im Streit, oder er hat am Arbeitsplatz versagt. Frauen bleibt in ähnlichen Fällen nur die Prostitution. In Kamagasaki gilt deshalb die Grundregel: Fragen nach der Vergangenheit sind tabu. Von den Obdachlosen, die in der Franziskanerherberge eine Anstellung gefunden haben, wissen die Patres nicht mehr, als daß sie zuvor auf der Straße gelebt haben. Sozialarbeiter Watanabe: „Die Menschen im Ghetto verachten sich selbst.“
Shichihei Yamamoto, ein einflußreicher nationalistischer Intellektueller, erklärt die Armut in Kamagasaki aus der japanischen Kulturideologie: „Sagt ein Japaner, er habe den Glauben an sich selbst verloren, dann gibt er die Grundlage seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft auf...“
„Tsukai-sute-rodo“ - „Wegwerfarbeiter“ nennt man in Japan die Tagelöhner. Vor sieben Jahren schlugen Schuljungen zwei Tagelöhner mit Baseballschlägern tot. Bei der Polizei gaben sie zu Protokoll: „Das sind doch keine Menschen. Wir haben sie geschlagen, um unseren Frust loszuwerden.“ Die Affäre macht zunächst Schlagzeilen, geriet dann aber schnell in Vergessenheit. Seit jeher nehmen sich in Japan nur die Christen der Ärmsten der Armen an. Katholiken, Franziskaner und die religiöse Minderheit der Lutheraner sehen sich seit 30 Jahren allein an dieser Front. Von der Polizei, die jede Straßenecke des Ghettos mit Videokameras überwacht, müssen sie gelegentlich Beschimpfungen einstecken. Die Ordnungshüter sind der Meinung, daß „der menschliche Abfall die Mühe nicht wert ist.“
Bleiben nur die Bemühungen der Yakuza, der allmächtigen Mafia, die im Land etwa 100.000 Mitglieder zählt. In Osaka regiert die Yamaguchi-gumi, die landesweit stärkste Verbrecherbande. In Tokio hat die kleinere, für ihre Erpressungsmethoden nicht weniger berüchtigte Kanamachi-gumi das Tagelöhnerviertel Sanya im Griff. Die kleinen Yakuza -Büros bekommen derzeit von den großen Baufirmen etwa 25.000 Yen (300 DM) pro Tag - das ist mehr als das Doppelte des ausgezahlten Tageslohns. Die Geschäfte gelten als legal, weil die Baubranche nicht unter das neue Teilzeitarbeitsgesetz von 1986 fällt. Der Einfluß der Yakuza reicht bis ins Parlament. Viele der großen Baufirmen Japans entstammen ursprünglich der Gangsterwelt. Sie tragen noch heute den Zusatz „gumi“ im Namen, was soviel wie „Klasse“ oder „Bande“ bedeutet. Die im ganzen Land bekannte Großfirma Obayashi-gumi zum Beispiel nimmt bis heute fast ausschließlich Yakuza-Betriebe als Zulieferer.
Bis auf einige Bürgerinitiativen, Christen und Kommunisten regt sich darüber in Japan niemand mehr auf. Es störte auch nicht, als Premierminister Eisaku Sato vor einigen Jahren über eine „Yakuza„-Leibwache verfügte. Die mächtigsten Nachkriegspolitiker des Landes haben ihre politische Karriere den engen Beziehungen zu verdanken, die sie stets zur heimischen Bauindustrie unterhielten. Gegen die ausländische Kritik am unlauteren Wettbewerb ist die Branche daher auch immun - die Yakuza schreibt ihre eigenen Gesetze.
Für die meisten Japaner ist das Gangstermilieu nur ein schönes Kinoabenteuer. Zahlreiche Filme beschreiben die Taten der Yakuza in Robin-Hood-Manier. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Banden kontrollieren eine riesige industrielle Reservearmee. Etwa eine Million obdachlose Tagelöhner, drei Millionen „Burakumin“, Mitglieder einer seit dem Mittelalter diskriminierten und isoliert lebenden Kaste, sowie eine geschätzte Zahl von 500.000 illegalen ausländischen Arbeitern können heute nur mit Hilfe der Yakuza ihr tägliches Brot verdienen. 1987 wollte der japanische Filmregisseur Sato den Gangsterpraktiken auf den Grund gehen. Er kündigte Aufnahmen in Tokios Sanya-Viertel an - kurz darauf wurde er erschossen.
In Kamagasaki unterhalten die Arbeitsvermittler der Yakuza mehrere öffentliche Büros. Ausländischen Journalisten wird von Besuchen abgeraten. Arbeitskonflikte regeln die Yakuza -Büros vor Ort in Zusammenarbeit mit einem Arbeiterkomitee, das ursprünglich von linksradikalen Studenten gegründet worden war. Derzeit werden nach Arbeitsunfällen sogar die Krankenversorgungskosten übernommen, um Ärger mitten in der Hochkonjunktur zu vermeiden.
Wer das Alter von fünfzig Jahren überschritten hat, ist nach Ansicht der „tehaishi“ von Kamagasaki für die Schwerarbeit auf dem Bau nicht mehr zu gebrauchen. Die Menschen, die im Ghetto dieses Alter erreichen, sind für den Rest ihres Lebens erwerbslos und obdachlos. Um sie kümmert sich Munemasa Watanabe. In seiner winzigen Herberge, die er eigenhändig aufgebaut hat, lagern jede Nacht fünfzig alte Männer - auf siebzig Quadratmetern. Das ist immer noch besser, als auf der Straße. Nachmittags zwischen drei und fünf Uhr empfängt Watanabe seine Gäste. Dem ersten muß er das steifgeschwollene Bein verbinden, dann trägt er den stinkenden Greis die Treppe hoch. Dann kommen die anderen, viele versuchen, trotz ihres steifen Rückens, sich vor dem Gastgeber zu verneigen. Kaum einer schafft es noch, die Treppe allein hinauf zu gehen.
Watanabe schreckt der Anblick dieser menschlichen Wracks nicht ab. Er hält durch, weil er ein Ziel hat, einen großen idealistischen Traum im reichsten Industrieland der Erde: „Ich kämpfe solange, bis Japan eine gesetzliche Rentenversicherung hat.“
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