Die halben Schweine und das Vaterland

Das Recht der Opposition auf ihr Bild eines anderen Deutschlands  ■  G A S T K O M M E N T A R

Wendezeiten - wir wissen es - fressen Hoffnungsträger. Von irgendwas muß der Schornstein schließlich rauchen. Den Daumen runter für den Überbringer schlechter Nachrichten! Selten hatte Oskar Lafontaine, der Vielbetreute, so einhellig alle Politpädagogen auf sich versammelt. Rudolf Augstein bläst ihm sein vertrauliches „tja, tja, Oskarchen“ ins Gesicht. Der Graf straft mit dem Stöckchen ab, Frau Renger tritt mit dem Stöckelschuh nach, und auch die taz -Redakteurin erzieht mit („Ich empfehle eine kleine Nach-Kur in Berlin“). Wer nicht mit will, wo alle hinwollen, den bestrafen die Deutschen. Aber woher kommt das Missionarische, die Aggressivität und Unduldsamkeit?

Einer muß ja das kollektive Stumme ausdrücken, das Unbehagen, daß etwas Unberechenbares abläuft. Wenn sie es denn alle so genau wissen, die Augstein, Kohl, Lambsdorff und Dohnanyi, so könnten sie doch gütigst dies kleine Weilchen abwarten, bis ihr Rechthaben und unser Jahrhundertirrtum klar ans Licht der Sonne kommt. Könnte ja sein, daß Oskar Lafontaine nur ein bißchen zu schwarz sieht, zu sehr von „down, down, and away“ und von Ferne her. Könnte sein. Könnte sein, daß die SPD eher einen Kanzlerkandidaten fürs große Gemeine bräuchte. Könnte aber auch nicht sein. Die Wahrheit ist nämlich, daß alle an einem Gesellschaftexperiment teilhaben, das ohne Beispiel und ohne Vorbild ist. Instinkt steht da gegen Instinkt und Überzeugung gegen Überzeugung. So brutal ist noch nie außer in Kriegszeiten - eine Gesellschaft in eine andere hineingestürzt, beziehungsweise gestürzt worden. Nun finde ich, daß es an begleitendem Hurra-Geschrei für diesen einmaligen Vorgang in allen westdeutschen Medien und Parteien wahrhaftig nicht mangelt. Da freut man sich doch über jeden, der (übrigens mit respektablen mitmenschlichen Gründen) nicht im Geiste mitmarschiert.

Nach diesem fiebrigen Sommer kommt ein Herbst, und erst im Winter werden alle genauer wissen, was ging und was nicht geht. Mag ja sein, daß Helmut Kohl dann Schwein gehabt hat und mehr Glück als Verstand. „Bloß machen zwei halbe Schweine noch“ - sagt Wolf Biermann - „kein ganzes Vaterland.“

Solange dies Wunder noch nicht geglückt ist, hat die Opposition alles Recht, auf ihrem Bild eines anderen Deutschlands zu bestehen, das nicht nach dem Gardemaß des Kanzlers geschnitzt ist.

Antje Vollmer

Die Autorin ist Bundestagsabgeordnete der Grünen