Vorläufiger Streikabbruch in Slupsk

Walesa will als Vermittler zur Regierung fungieren / Verbitterung der streikenden Eisenbahner über ihre Gewerkschaft Solidarnosc weiter geschwächt / Regierung zeigt sich erleichtert und will verhandeln  ■  Aus Stettin Klaus Bachmann

„Die wollen aus uns Clowns machen, Marionetten“, schimpft Kazimirz Muszynski, Chef des Streikkomitees der Stettiner Eisenbahner. Es ist Sonntag nacht, auf dem bestreikten Güterbahnhof des Stettiner Hafens ist es stockdunkel, nur vom Hafen her dringt ein schwacher Lichtschein. Über einhundert Streikposten haben sich eingefunden. Die Stimmung ist kämpferisch, und die meisten der Anwesenden, obwohl Solidarnosc-Mitglieder, lassen an ihrer Gewerkschaft kein gutes Haar. Was die Streikenden in Stettin noch nicht wissen - während sie debattieren, hat sich Lech Walesa von Gdansk aus ein zweites Mal auf den Weg nach Slupsk gemacht. Das erste Mal hatte der Gewerkschaftschef mit den Streikenden schon ein Abkommen über das vorläufige Ende des Arbeitskampfs ausgehandelt, als die Drohung laut wurde, einer der Hungerstreikenden im Krankenhaus würde sich bei Streikabbruch aufhängen. Walesa tobte, zerriß das Abkommen, rief etwas von Provokation und ging.

Dieses Mal läßt er sich durch keine angeblichen Selbstmörder aufhalten. Das Abkommen vom Vortag wird um 1 Uhr nachts im PKP-Gebäude von Slupsk unterzeichnet. Am frühen Morgen fahren die ersten Züge. Nun hat Walesa den schwarzen Peter: In dem Abkommen wird die Regierung aufgefordert, die Forderung der Streikenden nach höheren Löhnen und nach einer Reform des Eisenbahnwesens nochmals zu überdenken. Bis Mitte Juni soll in Verhandlungen versucht werden, zu einer Einigung zu kommen. Zwei Wochen Zeit also, um jene Lohnerhöhungen zu erledigen, die die Regierung auf keinen Fall zugestehen will. Zufall, daß Mazowiecki und Balcerowicz gerade nach Paris zu Umschuldungsverhandlungen geflogen sind? Viele rechnen damit, daß nun der nächste Konflikt zwischen Danzigs einflußreichstem Elektriker und der Regierung Mazowiecki fällig ist. Zwei Wochen Aufschub dann kann alles von vorne losgehen.

Daß Walesa diese fast aussichtslose Vermittlungsaktion übernommen hat, wird die Erbitterung der streikenden Solidarnosc-Mitglieder in Pommern gegenüber ihrer Gewerkschaft kaum besänftigen. „Ich war schon in der Partei in den siebziger Jahren“, sagt Muszynski, Chef des Stettiner Streikkomitees, „und dazu steh‘ ich auch, ich hab‘ mein Parteibuch abgegeben, als ich es nicht mehr aushielt, und genauso werde ich nach diesem Streik mein Solidarnosc-Buch abgeben“. Solidarnosc habe die Presse in der Hand, beleidige und verleumde die Streikenden, unterstelle ihnen politische Intrigen und arbeite gegen sie. Eine Arbeiterin: „Die fahren jetzt überall rum und versuchen, die Streiks zu ruinieren. Die tun alles, um uns unterzukriegen. Schlimmer als die Kommunisten.“ Besonders auf Walesa sind die streikenden Eisenbahner in Stettin schlecht zu sprechen. Zu spät sei er gekommen, habe sie beleidigt und verächtlich gemacht. Aber die Streikenden wissen auch, daß ihr Ausstand bei der Bevölkerung alles andere als populär ist. Zur gleichen Zeit, als Walesa in Slupsk das Abkommen über den Streikabbruch unterzeichnet, bittet Streikführer Muszynski in Stettin, noch 20 Freiwillige zum Hauptbahnhof zu schicken. Die Kollegen dort brauchen Unterstützung, denn eine Demonstration gegen den Streik ist angekündigt. Spontan oder sorgfältig eingefädelt? Ein polnischer Journalist, der in Stettin anwesend ist, berichtet, daß ihm Solidarnosc-Leute schon Stunden vor der letzten spontanen Demonstration davon in Kenntnis gesetzt hätten. In Warschau zeigt sich mittlerweile ein Regierungssprecher befriedigt über den Streikabbruch, sagte, alles werde dadurch leichter, und deutete Gesprächsbereitschaft für einen neuen Tarifvertrag an.