Im Familiendschungel

■ Zur Erstaufführung von Nelson Rodriguez‘ „Familienalbum“ in Düsseldorf

Ein riesiges Kreuz lastet schräg verkeilt auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses. Im Verlauf der Inszenierung werden Fragmente des gekreuzigten Christus auf es herabsinken: Schmerzenshaupt und Nagelhand. Unter dem schwarzen Stahlkreuz glüht blutrot das Seelenchaos: Rosen, Skelette, eine gebärende Frau. Dieses Kreuz ist Grundzeichen und Spielfläche der Inszenierung in einem: Symbol der Triebunterdrückung und Laufsteg der Leidenschaften.

Nelson Rodriguez‘ Stück spielt im katholischen Brasilien des Jahres 1924. In Wilfried Minks‘ Inszenierung spielt es vor allem im dunklen Land der Träume. Es ist ein bizarres Konzentrat von bitteren Wunschträumen. Alle Formen, die Liebe und Haß zwischen Vater, Mutter, Sohn und Tochter annehmen können, werden mit träumerischer Hemmungslosigkeit durchgespielt. Der Vater verachtet die frigide Mutter, haßt seine Söhne, liebt seine Tochter und schläft ersatzweise mit anderen jungen Mädchen. Die Mutter haßt den Vater und liebt ihre Söhne. Der älteste Sohn ist der Rivale des Vaters in der Liebe zur Tochter. Er wird Priester und kastriert sich selbst. Der zweite Sohn versucht seiner Mutterbindung und Homosexualität durch eine Heirat zu entkommen. Der jüngste Sohn wird wahnsinnig, nachdem er mit der Mutter geschlafen hat, und haust nackt im Urwald. Die Tochter betet ihren Vater als Christus an und wird lesbisch.

Aber in Schwung kommt die Familienkatastrophe erst dann, als die Ausbruchsversuche der jüngeren Generation scheitern und alle zurückkommen. Der älteste Sohn erschießt seine geliebte Schwester und wirft sich vor den Zug. Der zweite Sohn bringt sich nach einer Liebeserklärung an seine Mutter um, der Vater läßt sich schließlich von der Mutter abknallen. Übrig bleibt nur die unbewegte Mitte der Familienzentrifuge: die heilige Mutter mit ihrem inzestuösen, irren Sohn.

Das Stück ist ein psychoanalytisches Laboratorium, eine himmelschreiende Häufung häßlicher Familienangelegenheiten. Alle Beziehungen sind vereinfacht, reduziert, vergröbert bis zur Lächerlichkeit: Eine Trivialtragödie mit melodramatischem Pathos, aber ohne die epische Breite der Familiensagas. Der Zerfall läuft ab im Tempo eines Fiebertraums. Es gibt keine Zeit für plausible Verknüpfungen. Wenn der Vater von seinem Sohn sagt, der werde noch einst zurückkommen und sagen: „Ich habe das Priesterseminar verlassen“, so kommt der Sohn schon und sagt diesen Satz. Die Sätze und Handlungen der Figuren sind nur durch eine Traumlogik verbunden. Es gibt keine Zeitspanne zwischen Wunsch und Erfüllung, es gibt nur die Widersprüche in den Wünschen selbst. Liebe ist Haß, und Auflehnung ist Unterwerfung. Alle Entwicklungen sind nur das Hin-und-her -Schwanken zwischen ambivalenten Gefühlen. Alle Gefühle sind innerhalb der Familie kreiskausal verknüpft: Weil A B liebt, haßt C B. Weil C B haßt, liebt D C usw. Diese Familie ist ein System, das wegen mangelnder innerer Differenzierung seine Beziehung zur Umwelt nicht stabilisieren kann. Ihr Geheimnis: Sie können nur Mitglieder der eigenen Familie lieben und hassen. Für sie ist die Außenwelt emotional leer. Sie scheitern an dem allen Gesellschaften zugrundeliegenden Prozeß: die in der Familie gelernten Gefühle von Liebe und Haß auf Menschen außerhalb der Familie zu übertragen.

Nelson Rodriguez wird dank der Bemühungen der Dramaturgie des Kölner Schauspiels (die mittlerweile nach Düsseldorf, Tübingen und Berlin verstreut ist) auch in Deutschland als Theaterautor entdeckt. Der 1980 gestorbene brasilianische Zeitungsreporter hat Stücke von kolportagehafter Aufdringlichkeit und journalistischer Direktheit geschrieben. Nach den Kölner Aufführungen von Kuß im Rinnstein und Der Mann mit dem goldenen Gebiß ist dies die dritte deutsche Erstaufführung. Auch Familienalbum hat den Gestus des Enthüllungsjournalismus: Seht hinter die intakten Fassaden der reichen Familien! Auch hier kann man Schlagzeilenpsychologie, tragischen Kitsch und sensationsgierige Tabuverletzung finden. Aber Wilfried Minks inszeniert keine plumpe Boulevardtragödie und keine modische Seifenoper, sondern ein düsteres Traumspiel. Der Ort, die Situation bleiben fast undefiniert. Im Hintergrund dräut der giftgrüne Dschungel und überwuchert die geometrisch geordnete Großstadt. Ansonsten gibt es nur das Auf und Ab der Archetypen auf dem Kreuzweg. So wird das problematische Stück spielbar, und den Schauspielern bleibt das Unmögliche erspart, ihre Figuren realistisch motivieren zu müssen. Entsprechend blaß bleibt aber auch ihr Spiel. Nur Barbara Nüsse als laszive Übermutter markiert mehr als nur einen Punkt in der verwirrten Beziehungsgeometrie des Stückes.

Gerhard Preußer

Nelson Rodriguez: „Familienalbum“. Düsseldorfer Schauspielhaus. Regie und Bühne: Wilfried Minks. Mit Peter Drombacher und Barbara Nüsse. Weitere Vorstellungen: 8.-12. und 15.6.