„Paristroika“ in den afrikanischen Tropen

Unter dem Druck sozialer Unruhen schwenken immer mehr abgewirtschaftete Einparteiensysteme und Diktaturen des frankophonen Afrika auf moderaten Demokratisierungskurs / Frankreich unterstützt den neuen Pluralismus als Übergangsstrategie / Können die korrupten Verbündeten so ihren Kopf aus der Schlinge ziehen?  ■  Von Knut Pedersen

Die Mauer in Berlin war schon gefallen, aber der Sturz der Ceaucescu-Diktatur in Rumänien stand noch aus, als sich am 6. und 7. Dezember vergangenen Jahres die führenden Gremien der Volksrepublik Benin zu einer gemeinsamen „Notstandssitzung“ versammelten. Auf der Tagesordnung stand nicht mehr und nicht weniger als die Rettung des seit 17 Jahren - dank eines Militärputschs installierten „marxistischen“ Regimes. Aber wie ist ein Kleinstaat zu retten, dessen Beamtenheer seit vier Monaten streikend auf Bezahlung wartet, dessen Schulen und Staatsuniversität seit zwei Jahren geschlossen sind, dessen Banken allesamt vor dem Bankrott stehen und dessen Kreditwürdigkeit im „kapitalistischen“ Ausland lange schon auf Null gesunken ist? Guter Rat für den bedrängten General und Staatschef Mathieu Kerekou kam... aus Paris, der Metropole der ehemaligen Kolonialmacht.

Während die „revolutionären Führungsgremien“ noch die Not der Stunde beklagten, einigten sich der Kabinettsdirektor Mathieu Kerekous und Guy Azais, der Botschafter Frankreichs in der beninischen Hauptstadt Cotonou, bereits auf die zu beschließenden Reformen. In einem kleinen Büro des Präsidialamts arbeiteten sie sogar das Abschlußkommunique der „historischen Notstandssitzung“ aus. Und so wurde denn am Abend des 7. Dezember von der Nomenklatura der Volksrepublik Benin nolens volens angenommen und per Rundfunk verkündet, was zuvor in Paris schon beschlossen ward: die Trennung von Staat und Partei, eine Verfassungsreform zugunsten von Parteien- und Gewerkschaftspluralismus, die Einberufung einer „nationalen Konferenz aller Lebenskräfte der Nation“, die über die Zukunft des Landes endgültig - und demokratisch entscheiden sollte.

Die rund vier Millionen Bürger Benins trauten ihren Ohren nicht. Nach monatelangen Streiks, nach Demonstrationen, bei denen mehrere Menschen dem Schießbefehl der Sicherheitskräfte zum Opfer gefallen waren, nach siebzehn Jahren obskurer, marxistisch eingefärbter Diktatur sollte nun mit einem Male Demokratie und Meinungsfreiheit auf der Tagesordnung stehen. Der Traum ist Wirklichkeit geworden. Dank der Zivilcourage beninischer Demokraten und... dank französischer Finanzhilfe in Höhe von rund 500.000 DM hat die „Nationale Konferenz“ tatsächlich vom 19. bis 28. Februar stattgefunden. Aber diesmal saßen im Hinterzimmer keine „Berater“ mit „Instruktionen“ aus Paris. Die aus allen Schichten rekrutierte Konferenz schrieb sich aus eigenmächtiger Kraft und Überzeugung „Volkssouveränität“ zu

-wie 1789 der dritte Stand im Ballhaus von Versailles.

Beschlossen wurde so die Freilassung aller politischen Häftlinge, die Aufdeckung vertuschter Korruptionsdelikte, die Bildung einer Übergangsregierung bis zu freien Wahlen im Januar kommenden Jahres und die Ernennung - aus den eigenen Reihen - eines Regierungschefs, der bis dahin die laufenden Staatsgeschäfte führen soll. Präsident Mathieu Kerekou, der vor der versammelten Konferenz weinend zusammengebrochen war, wurde in seinem Amt bestätigt - als Symbol staatlicher Kontinuität inmitten demokratischen Umbruchs. Seit dem Amtsantritt des Premierministers Nicephore Soglo, am 18. März, ist seine einstige Allmacht freilich eng begrenzt. Mathieu Kerekou ist - formell - Staatschef geblieben, weil er zumindest das Verdienst hatte, in letzter Minute dem Gang der Geschichte nicht im Weg gestanden zu haben. So ließe sich letzten Endes auch die Rolle Frankreichs beschreiben. Wie der lange Zeit als „großer Kampfgenosse“ gepriesene Mathieu Kerekou versucht Paris, fünf Minuten vor zwölf den „friedlichen Übergang“ zu organisieren. Insofern hat die zunächst als unheilige Allianz anmutende Komplizität zwischen einem „roten General“ im Benin und der ehemaligen Kolonialmacht in Paris einen durchaus objektiven, gemeinsamen Grund.

Staatspleite leitet den Übergang ein

Fazit: Frankreich verhält sich heute in Afrika wie die Sowjetunion Michail Gorbatschows gestern in Osteuropa. Mangels Kraft und Willens, die verbündeten Diktaturen weiterhin aufrechtzuerhalten, „begleitet“ Paris einen Demokratisierungsprozeß, den es ohnehin nicht hätte verhindern können. Moralisch und finanziell sind die Satrapenstaaten West- und Zentralafrikas am Ende. Die Bevölkerung begehrt auf, verlangt Rechenschaft für vergangene Verwaltung und Mitspracherecht in künftigen Entscheidungen. Frankreich, lange Zeit die stützende „Weltmacht“ willkürlicher - und willfähriger - Herrscher, weicht heute zurück. Das entspricht seinen Interessen. Auf lange Sicht ist der „geordnete Rückzug“ aus Afrika eine geopolitische Notwendigkeit für die europäische Mittelmacht.

Benin, ein kleines und wirtschaftlich unbedeutendes Land, ist zum experimentellen Modellfall geworden. Im ehemaligen Quartier Latin Westafrikas, der Schreib- und Denkstube französischer Kolonialverwaltung, gab es einfach keine Alternative mehr zu grundlegendem Wandel: Das Militärregime Mathieu Kerekous war vollends abgewirtschaftet, das Land ausgeblutet und die Bevölkerung aufmüpfig geworden. Da zudem hier für Frankreich ökonomisch nichts auf dem Spiel stand, wurde ausprobiert, was inzwischen anderswo Schule gemacht hat: „Paristroika“, die französische Variante passiver Demokratisierung.

Seit Anfang des Jahres hat sich die beninische Probe aufs Exempel in einer Reihe anderer Länder - mit nationalen Varianten - wiederholt. Gleichgeblieben ist ein Grundmuster radikalen Umbruchs, der demokratisches Aufbegehren von unten mit oktroyierten Reformen von oben zu „friedlichem Übergang“ entschärft - zumindest bislang. Ausgangspunkt ist stets die akute Finanzkrise des Staates, der seine städtische Klientel und, vor allem, sein Beamtenheer nicht mehr befriedigen kann. Die dadurch provozierten sozialen Unruhen erschüttern endgültig die internationale Kreditwürdigkeit bereits hoch verschuldeter Länder. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, hinter deren „Diktat“ sich die westeuropäischen „Geberländer“ wie Schafe im Wolfspelz verbergen, drängt auf „wirtschaftliche Orthodoxie“. Strukturelle Anpassungsprogramme verlangen „Opfer“ von einer Bevölkerung, die nichts mehr zu geben hat - vor allem nicht einem korrupten Vasallenregime. Der Protest nimmt politische Formen an.

In der Elfenbeinküste, in Kamerun, in der Zentralafrikanischen Republik, in Zaire, im Kongo und in Gabun sind die einst Allmächtigen heute in der Defensive. Die eilends in Paris reklamierte „direkte Budgethilfe“ ist ausgeblieben. Statt dessen kommt guter Rat aus der ehemaligen Kolonialmetropole. Angesichts wachsenden Protestes müssen demokratische Schleusen geöffnet und der Unmut der Bevölkerung kanalisiert werden. Wie? Durch die Trennung von Staat und Einheitspartei, die Institutionalisierung politischen und gewerkschaftlichen Pluralismus, die Einberufung einer „nationalen Konferenz“ und die Ernennung eines Regierungschefs, der dem Präsidenten als „Blitzableiter“ dient.

Mehr als nur zynische Manipulation

Im Benin hat mit Nicephore Soglo ein ehemaliger Weltbankangestellter die Regierungsgeschäfte übernommen. Mitte April wurde in der Elfenbeinküste der vormalige Gouverneur der westafrikanischen Zentralbank, Alassan Ouattara, zum „wirtschaftlichen Superminister“, das heißt de facto zum Premierminister, ernannt. Am 27. April folgte in Gabun Casimir Oye-Mba, zuvor Generaldirektor der zentralafrikanischen Währungshüter. Und schließlich, einige Tage später, wurde in Zaire Professor Lunda Bululu, bis dahin Generalsekretär der Zentralafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, neuer Regierungschef. Summa moralia: Drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitswelle in Afrika muß man jung, intellektuell und technokratisch sein und am besten als internationaler Funktionär im Ausland gelebt haben, um die Regierungsgeschäfte übernehmen zu können. Weil alte und stupide Herrscher an der Macht bleiben wollen? Der Verdacht ist begründet.

Lediglich Nicephore Soglo, der Premierminister Benins, ist von einer demokratischen Delegiertenkonferenz bestimmt worden. Seine Auslandserfahrung und - damit verbunden - sein Mangel an politischer Gefolgschaft im Lande haben bei seiner Wahl eine Rolle gespielt. Während der delikaten Übergangsperiode bis zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung war ein „politischer“ Premierminister, der bereits seine Kampagne für die künftigen Präsidentschaftswahlen betrieben hätte, aus verständlichen Gründen unerwünscht. Aber der politische Eunuch, der sich - technokratisch - zwischen das aufbegehrende Volk und den vormaligen Alleinherrscher als Puffer schiebt, dient anderswo einer Aushaltestrategie. In der Elfenbeinküste, in Gabun und in Zaire wurden die neuen Regierungschefs von alten Präsidenten ernannt, die nunmehr „über dem Parteienzank“ als „Schiedsrichter der Nation“ schweben. So jedenfalls hat es Zaires Marschall Mobutu Sese Seko definiert. Dank der am 24. April eilends dekretierten Verfassungsreformen hat sich der seit einem Vierteljahrhundert auf Bajonette gestützte Diktator in den Himmel der „Richtlinienkompetenz“ entzogen.

„Demokratischer Virus“ infiziert ganzen Kontinent

Sind die Diktaturen Afrikas noch zu retten? Die Frage bleibt vorläufig offen. Bislang hat die „Paristroika“ in den Tropen sich zumindest als Übergangsstrategie bewährt - und nicht nur als zynische Manipulation französischer Salonafrikanisten. In Ländern, in denen jahrzehntelang angestautes Leid - und Haß - rechtsstaatliche Verantwortung zu überspülen drohte, sind Chaos und Massaker bislang verhindert worden. Im Gegensatz zu osteuropäischen Ländern kann Afrika nur sehr begrenzt auf demokratische Traditionen zurückgreifen. Es ist sicher Unsinn, der agrarisch geprägten afrikanischen Bevölkerung ihre bürgerlichen Rechte streitig zu machen, nur weil sie Montesquieu nicht im Original lesen können. Es ist aber ebenso unsinnig, Demokratie als „universelles Patentrezept“ zu betrachten, für das es keinerlei Voraussetzungen bedarf.

Am 2. März dieses Jahres wurde, zum ersten Male in der unabhängigen Geschichte der Elfenbeinküste, in den Straßen der Hauptstadt Abidjan spontan protestiert. Die Regierung hatte wenige Tage zuvor Gehaltskürzungen zwischen acht und vierzig Prozent angekündigt. Meist jugendliche Demonstranten, für die der „historische Kampf“ des heute 84jährigen Präsidenten Houpouet-Boigny nur mehr „alte Geschichte“ ist, haben die Korruption der herrschenden Klasse denunziert. Seither haben soziale Unruhen das - vom Internationalen Währungsfonds inspirierte - „strukturelle Anpassungsprogramm“ und das Einheitsparteienregime zu Fall gebracht. Felix Houphouet-Boigny, lange Zeit vom Westen als „weiser Mann Afrikas“ bejubelt, hat angesichts wachsenden Drucks seinen „baldigen Rücktritt“ angekündigt. Warum? Weil selbst im „ökonomischen Wunderland“ Westafrikas die Staatskasse leer ist und das Volk mit Fingern auf die „Diebe“ zeigt.

Mit der Elfenbeinküste ist das „Schaufenster Frankreichs in Afrika“ zu Bruch gegangen. Aber der Massenprotest ist kein Garant für Demokratie. Vor der Staatspleite war „demokratisches Bewußtsein“ ein auf intellektuelle Zirkel begrenztes Randphänomen. Und noch immer ist die Meinung der auf dem Lande lebenden Mehrheit nicht gefragt. Es ist bezeichnend, daß der städtische Protest nicht die ärmsten Länder und nicht einmal - mit Ausnahme Zaires - die repressivsten Regime erschüttert hat; statt im Sahel wird in der Elfenbeinküste, in Kamerun und im erdölreichen Gabun protestiert. Inzwischen hat der „demokratische Virus“ freilich den gesamten Kontinent erfaßt. Auch in Gambia, in Tansania und Kenia wird nunmehr um Mehrparteienfreiheit gerungen. Und die westlichen Länder folgen dem tutelarischen Beispiel Frankreichs: Wo immer heute Washington, Brüssel, London oder Bonn von „Freunden an der Macht“ um Beistand gebeten werden, predigen sie „Kontinuität dank Wandel“. Das ist die herrschende Notstandsformel für demokratische Reformen.

Demokratie in Afrika bedeutet, wie es auf einem Transparent in den Straßen Abidjans zu lesen war, „Moralisierung des öffentlichen Lebens“. In Ländern, in denen die Auslandsschuld oft den Guthaben auf den Auslandskonten des Präsidenten entspricht, geht es vor allem um Amtsmißbrauch und Korruption. Es geht aber auch um bürgerliche Freiheitsrechte gegenüber staatlicher Willkür, die Pässe verweigert, Minderheiten unterdrückt, die Presse knebelt und Gefangene foltert. Der Schnittpunkt von staatlicher Finanzkrise, neo-kolonialem Paradigmenwandel und Massenprotest ist die Einsicht, daß demokratische Mitbestimmung nicht nur die Folge von Entwicklung, sondern auch ihre Voraussetzunbg ist. Was bedeutet das für Afrika? Daß es weiter nach der Quadratur des Teufelskreises suchen muß, dem es seine historische Unterentwicklung verdankt.