Die Vertrauenskrise beginnt erst

■ Wahl von Boris Jelzin zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet in der russischen Republik

Es ist wie das Märchen vom Aschenputtel, oder sollte man besser sagen vom Phönix, der sich aus der Asche erhebt? Denn Boris Jelzin, der vor zwei Jahren von Gorbatschow wegen seiner Kampagne gegen Bonzenprivilegien als Moskaus Parteichef abgewählt wurde und gegen den dann das ZK ein demütigendes Untersuchungsverfahren einleitete, hat gesiegt. Sollte frau oder man sagen, das Volk hat gesiegt? Diese Redewendung erscheint pathetisch, doch daß es auch in den einfachsten und ärmsten Kreisen Rußlands keinen populäreren Politiker als Jelzin gibt, ist ohne Zweifel. Nicht ganz auf der Höhe - zumindest der westlichen Zeit - erscheint dieser pinguinhafte Michael Kohlhaas, der sein Leben lang mit seinem Kopf durch die Wand wollte. Es ginge ihm viel besser, seit er nicht mehr die Kliniken der Privilegierten in Anspruch nehme, er also Rücksicht nehme auf seine Gesundheit, meinte er vor einem Jahr. Ist es also Zufall, daß ihn die jüngst notwendig gewordene Rückgratoperation gerade in Spanien ereilte?

Vor kurzem konnte er nur noch stehen oder gehen, aber auf dem Wahlkongreß waren alle Schmerzen vergessen. Einige Bubenstücke Jelzins letztes Jahr, aus denen ihm die offizielle Sowjetpresse einen Strick drehen wollte, haben ihm in der breiten Bevölkerung nur noch mehr Sympathien eingebracht. Doch mancher der gebildeteren Anhänger nimmt ihm seine „Alkoholismus-Auftritte“ in den USA sehr übel, ebenso wie die offenbar private Episode, bei der Jelzin nachts naß aus dem Moskwafluß auftauchte.

Natürlich ist die Entscheidung der russischen Deputierten auch eine Entscheidung gegen Michail Gorbatschow mit seiner wankelmütigen Politik, die in den letzten Jahren immer zugunsten des Apparates ausschlug. Gorbatschow warf sein persönliches Gewicht gegen den politischen Kontrahenten auch in einem Auftritt vor dem Obersten Sowjet der Russischen Föderativen Sowjetrepublik massiv in die Waagschale. Als der bisherige Präsident der Russischen Föderation, Wlassow, seinen letzte Woche ausgesprochenen Kandidaturverzicht wiederum zurücknahm, war es klar, daß der Apparat sein letztes Geschütz gegen Jelzin auffuhr. Dessen Wahlsieg ist deshalb nicht nur mal zwei, sondern wahrscheinlich sogar hoch zwei zu nehmen. Während dieser historischen Sitzung des russischen Obersten Sowjet, wurde klar, worüber Moskauer Soziologen in letzter Zeit oft gestritten haben: Das Land wird von einer „Vertrauenskrise“ geschüttelt. Für Boris Jelzin beginnt sie allerdings erst jetzt. In den nächsten Tagen muß er sein Kabinett vorstellen.

Barbara Kerneck, Moskau