MUNDESSENMIKROAUF

■ Tina Turner in der Waldbühne

Publikum kann grausam sein. Jüngstes Opfer: Richard Marx, „Special guest“, sprich Vor-Turner von Tina, bei deren ersten von drei Konzerten in der Waldbühne. Dabei bemühte er sich redlich, gab alles, was er hatte. Schamlos versprühte er seinen Krokodilscharme auf die 25.000 Zuschauer, wechselte ansatz- wie charakterlos zwischen Ledernietenmacho und Rocksoftie, suchte die Kommunikation mit dem Publikum: „Why are you so calm? I want to hear you shout!“ Doch alle Register des Anheizens, alle noch so platten Gesten nutzten nichts. Es ist eben nicht das gleiche, ob Marx oder zum Beispiel Mick den Arm gen Himmel reckt.

Marx ist out. Das Publikum wollte Löwenmähne. Und vorher, bitte schön, in aller Ruhe den mit Liebe gepackten Picknickkorb leeren. Ganze Familien waren in die Waldbühne gepilgert, alle, von 14 bis 60, Tina-Turner-Fans. Flugs wurde die Kühltasche zum Tisch umfunktioniert, zwischen Butterbrotpapier und Heinz-Ketchup die eben erstandenen Wunderkerzen drapiert.

Kaum einer nahm Notiz vom sich abmühenden Marx. „Help me, if you can“, winselte er. Keiner erbarmte sich. Einzig der Himmel hatte Mitleid und quetschte sich bei Right here waiting for you einige Tropfen ab. Nach einer Stunde ließ der Ungeliebte endlich ab. Enttäuschend wie seine Musik auch sein Abgang: Mit „God bless you“ biederte er sich ein letztes Mal an. Ein kräftiges „Macht's euch selber“ hätte ihn vielleicht retten können. Richard Marx: Abgehakt.

Mittlerweile war es kurz nach 20Uhr, es wurde unangenehm kühl, die ersten Tina-Tina-Rufe hallten durchs Amphitheater. Doch, angeblich wegen der vom Regen verzögerten Aufbauarbeiten, zog eine weitere Dreiviertelstunde ins Land, bis die Diva erschien. Zur Zerstreuung beklatschte man solange die Rowdies, die in waghalsigen Balanceakten ohne Seil und Netz die 15 Meter hohen Lichtschienen bestiegen. Der Ober-Bühnen-Mufti, im Fluglotsenlook mit Kopfhörer und Walkie-talkie, ließ noch mal Hunderte von Lampen hampeln. Kein geringerer kreierte die Lightshow als Patrick Woodrowe, Lichtdesigner der Rolling Stones. Die im silbernen Kühlanlagenstil gehaltene Bühne erstrahlte fortan in allen Farben.

Irgedwann gegen 21 Uhr, die Schuhabsätze der im Innenraum Stehenden hatten sich bereits tief in den Rasen gebohrt, betraten die Musiker die Arena. Nur noch ein Gedanke beherrschte das Publikum: Wird sie das Netzkleid tragen?

Sekunden später ist sie da, die 50jährige Sexgöttin, die locker für 35 durchginge. Im erstaunlich hochgeschlossenen Silber-Leibchen, dazu der unverzichtbare Fransen-Mini, der wie immer knapp unterhalb der Schamgrenze endet. Die schwarzen High-Heels begrenzen das untere Ende ihrer Beine. „Steamy Windows“, kreischt sie in unverwechselbarer Turner -Manier ins Mikrophon, das eben noch so hartherzige Publikum schreit und jubiliert, wedelt mit den Armen und gerät ganz außer Rand und Band.

Doch der anfängliche Euphorieschub wich sogleich einer gewissen Mißbilligung. Tina Turner, der Megastar zum Anfassen, wurde von zwei wohlgeformten Tänzerinnen umrahmt, mit denen sie synchron Bewegungsabläufe abspulte. Entsetzen in den Augen der Fans, die eine wilde, ungestüme, explodierende Tina erleben wollten, keine Rock-Roboterin. Auch nicht, wenn sie diese die beiden jungen Konkurrentinnen klar an die Wand tanzt, weil sie besser programmiert ist. Hat unsere Heldin das nötig? Zum Glück nicht. We don't need another hero, erinnerte sich Tina, und fast zeitgleich entschwanden die beiden Hupfdohlen. Da war sie wieder, unsere Tina. Und sie drehte auf. Bei Privat Dancer schließlich standen auch die hartgesottensten Sitz -Freaks auf den Bänken, fuchtelten enthemmt mit Wunderkerzen und Leuchtstäben.

Tina Turner, seit nunmehr dreißig Jahren im Rockgeschäft und ohne den geringsten Anflug von Cellulitis, ist ein Profi ohne schädliche Nebenwirkung. Keine Spur von Arroganz haftet ihr an, weder Hochmut noch peinliche Anbiederung an die Jugendlichkeit. Gar fremd ist ihr der Mythos der Unberührbarkeit: Sie badet in der Hingebung der Fans, will gefallen, geliebt werden. Nicht weil sie es braucht, sondern weil die Fans es verdienen. Mit einer bei diesem Lärm erstaunlichen Sensibilität fängt sie die Stimungen des Publikums auf, macht sich persönlich vertraut, heizt ein oder dämpft, bis sie alle 25.000 restlos im Griff hat und jeder nach ihren in den Raum geworfenen Küssen geiert. Wessen Geistes die Kinder zu ihren Füssen sind, ist nicht ihre Sache. Sie ist nicht als Oberlehrerin gekommen. Tina will zum Anfassen sein, die Phrase „You are wonderful“ wirkt bei ihr ernstgemeint: Als Homage an ihre Fans. Sie lebt vom singen, und sie beißt die Hand nicht, die sie füttert.

Diese Gutmütigkeit, dieser „Ich will's euch recht machen„ -Trieb, der im totalen Gegensatz zum furiosen Auftreten steht, wäre fast verhängnisvoll geworden. Nach der 16 Jahre andauernden Ehe mit ihrem Entdecker Ike Turner galt sie als die meist- und am härtesten geschlagene Rocksängerin. Aus Rücksicht auf ihre vier Söhne, so sagt sie, ließ sie sich von ihrem Ehemann ohne Ende prügeln und mißhandeln. Erst 1976 rannte sie ihm davon. Seine Versuche, sie zurückzuholen, blieben erfolglos. Auf finanzieller Ebene jedoch nahm er sie aus wie eine Weihnachtsgans. Tina Turner tingelte in kleineren Clubs und hatte bis 1979 eine halbe Millionen Dollar Schulden, bevor Promoter Roger Davis ihr Comeback organisierte. 1981 gestaltete sie das Vorprogramm der Rolling-Stones-Tournee, und spätestens nach dem Turner -Jagger-Duett Honky-Tonk Woman war sie wieder ein Star.

Mit Geldsorgen muß sich die nach wie vor puren Sex ausstrahlende Sängerin nicht mehr abplagen. Allein die aktuelle Tour-LP Foreign affairs wurde über eine Million Mal verkauft. Auch bei ihrer Partnerwahl hatte sie offenbar mit dem Kölner Manager ihres Plattenlabels, Erwin Bach, diesmal eine glücklichere Hand.

Doch Erfolg puscht erst richtig. Teuflisch fetzt sie über die Bühne, schmeißt den wilden Mini, fletscht die Zähne über die beträchtliche Breite ihres Mundes, um Sekunden später die erste Fanreihe mit einem umwerfend direkten Blick in die Ohnmacht zu treiben. Kokett verschwindet sie hinter der Bühne, das Volk tobt, sie erscheint im weißen Netzkleid. Den üppigen Busen vorgestreckt, den Hintern blitzschnell seitlich verschiebend, haucht sie Edicted to love. Die zweite Fan-Reihe verabschiedet sich in die Bewußtlosigkeit.

Damit nicht alle wegtreten, setzt sie an zur Dressurnummer: Das Publikum muß singen. Zu leise, findet sie, und der riesige, knallrote Mund schmollt eindrucksvoll. Sofort verstärken die Fans ihre Bemühungen, grölen aus vollem Hals What's love got to do with it, bis die Gebieterin sie mit strahlendem Lächeln erlöst.

Zum Glück ist Tina Turner nur ein Superstar, noch keine Legende. Legenden geben nämlich höchstens eine Zugabe. Tina Turner ließ sich zu mehreren hinreißen. Zuletzt erschien sie quasi schon bettfertig in schwarzer Lederhose, forderte eindringlich „more respect“, schmeichelte „You're the Best“ und „I don't want to loose you“, um dann ein letztes Mal betörend die Löwenmähne zu schütteln und sich endgültig zu verabschieden: strahlend, sexy und ohne jeden Anflug von Krampfadern.

Michaela Schießl

Heute: Da capo