THEATER AUS DEM HUT

■ Werkschau freier Theatergruppen im Palast der Republik

Unter dem Titel „Zugriff“ stellten am letzten Wochenende drei Tage lang 56 - also fast alle - freie Theatergruppen aus der DDR ihr Schaffen im Palast der Republik und im Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park vor. Organisiert war dies vom „Büro für freie Gruppen“ im Verband der Theaterschaffenden. Die Idee war bei der sogenannten Besetzung des Palastes im April aufgekommen. Zur „öffentlichen Sichtung“ mühte man sich, „breite Publikumskreise, auch Kulturpolitiker, Veranstalter und die Medien auf das weitgefächerte Spektrum aufmerksam zu machen“. Zugreifen sollten die oder andere - so waren im Programm auch nicht die Namen der Schauspieler oder Regisseure der jeweiligen Stücke, stattdessen aber Kontaktadressen angegeben, unter denen man die einzelnen Gruppen buchen kann. Theatermacher oder Kommunalkulturpolitiker, bei denen man Entscheidungs- und Verteilgewalt vermutete, waren jedoch nicht gekommen, vielleicht schon deshalb, weil es zur Zeit ohnehin in der DDR kaum was zu verteilen gibt; gekommen stattdessen waren DFF (huhu!), Rundfunk, West-Journaille, der Kulturminister der DDR und einige hundert Interessierte.

Der Palast ist die ummauerte Perversion der Ferne. Seine merkwürdige Anziehungskraft bezieht er aus einer wunderlich trostlosen Abstoßung. Drinnen ist es, als könnte man nie mehr nach Hause. Die Türen sind Schwellen ins lieblose Nichts. Sie überschreitend, wird man lauwarm übergossen; seicht-eklige Schamoni-Soße setzt sich in den Ohren fest. Dann ist man drinnen. Drei Tage, drei Wochen, nie mehr wirst du zurückfinden in dein altes Leben, kein Fest hieß dich im neuen willkommen. Zwei Informationsstände versuchten, dich verloren zu unterstützen.

Acht herbeigewunderte Spielstätten waren die Hölle; für Spieler und Publikum. Apokalypse, Alptraumvariationen zeigte das „Theaterprojekt TheMa“ in zwanzig Bildern, die von allerlei Stroboskoplicht, vom Metronom - verrinnende Lebenszeit! -, von musikalischem Firlefanz zugekleistert waren. Von den SchauspielerInnen, die sich vor allem lustig auf dem Boden wälzten, sah man ab der zweiten Reihe kaum noch etwas. Nach der Vorstellung konnte man von verlorener Kollektividentität plaudern. In anderen Räumen hörte man vor allem das, was sich im Theater nebenan abspielte. Applaus schlich sich listig ins studentisch-peinigende Spiel des „Berliner Akademischen Theaters - B.A.K.T“ - Hedda Gabler, frei nach Ibsen - und ließ dieses noch unbeholfener wirken. Eingelegte Liedermacherei zweier Klampfenmänner (Blick nach oben), aber - „wer die Rose ehrt, der ehrt auch den Dorn“ - die Theatermacher wünschen sich zukünftig dornlose Rosen, „das wird sein, wenn's sein wird!“ - zog oder hob es wieder in fast sympathische Peinlichkeitssphären.

Schön und still war es nur am Morgen, als die Berliner „Du Mi Ni Je Bes“ über Ionescos sterbenden König variierten, improvisierten, Eigenes mit anderem (Müller etc.) collagierten und dabei immer im Rahmen ihres Könnens blieben. Zwischen Stühlen, Tischen, Fischen, Leitern agierte ein am Wochenende vielgesehenes Dreieck: die schlanke Spröde, vornehm kluge, eine Blonde mit rosigem Fleisch und ein Mann - der stiftet eh nur Unheil, und die Frau muß es dann ausbaden. Er stirbt, steht wieder auf - der König ist tot, es lebe der König. Überzeugend schön war das und wird im Hinterzimmer noch besser sein, dachte man und ging verträumt, sich zwischendurch etwas zu essen zu besorgen. Doch die Prenzlauerbergswirtsleute waren in ihr verdientes Weekend gefahren, gelaufen, geschwommen. So fand sich nur die „Korallenbar“: Rot, grün und blau leuchteten dort Glühbirnen alterslos zwischen Plasteflitter. Ins Träumen geriet man, unterstützt von einem Martini; hier noch klassisch bereitet - Wermut und Gin. Die Forelle war gut. Ein Oldenburger Kirchentagsfahrer erzählte vom umjubelten katholischen Kabarett.

Und zurück im Palast, im umlärmten Foyer, spielte der Weimarer Puppenspieler Henning Hacke was vom Fischer und seiner Frau. Sein Tisch- eigentlich Bauchladentheater begeisterte nicht nur die Kinder, denen die Zauberworte sogleich einfielen: „Mantje, mantje, timpete/ Buttje, Buttje in de See...“ Sehnsüchtig entfaltete er einfache Strandlandschaften, Pißpötte, Schlösser, Paläste. Kaum handgroß sind die Puppen, es wirbeln die Arme der Fischersfrau, die die Sonne im Westen aufgehen lassen möchte - „aktuelle Bezüge sind beabsichtigt“.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß die schönsten Stücke im Figuren- oder Puppentheater aufgeführt wurden. Die Ausbildungsmöglichkeiten für Puppenspieler sind in der DDR seit zehn Jahren zumindest - sehr gut, und das Puppenspiel verführt durch seine handwerklichen Voraussetzungen nicht so leicht zum Verzicht auf Geschichten, zur Improvisation, die hemmungslos in ihrer Übersetzung eigener oder allgemeiner Befindlichkeit so schnell langweilig werden kann für den Nichtbetroffenen.

Das Meißener „Marionettentheater Dombrowsky“ betreibt in der siebten Generation Handwerk im besten Sinne. So wird aus dem Froschkönig eine opulente Oper für Kinder. Auch wenn der eigentliche Coup, daß die Prinzessin den ganz echt Frosch küssen muß, herausgestrichen wurde.

Überhaupt findet sich das bekannte Spektrum theatralischer Formen wiederholt im Bereich des Puppen- und Marionettentheaters. Da gibt es die Kleinkind-Erziehungs -Variante zur Einübung sozialer Kontrolle. Der Puppenvater sagt: Ich gehe jetzt weg, und ihr, Kinder, müßt gut aufpassen, daß die zwei Kleinen auch lieb sind und es mir dann erzählen. Aber vor allem gab und gibt es Puppentheater als Kunstform, als Freiraum für (erst mal) formale Experimente und Innovationen, wie sie im staatlichen Schauspielertheater nicht zünftig waren.

Meisterin der Kunst der Übersetzung eines Text in allen Zügen und Lokomotiven ins Spiel von Geräuschen, Stimmen, Tönen, Lichtern, Farben ist „Zinnober“, die älteste freie Gruppe der DDR. Spielfläche der Bremer Stadtmusikanten ist zuerst nur ein heller Schirm aus Leinwand, auf dem die Figuren als Schattenriß erscheinen. Über die Ränder, den Rahmen des Schirms, wird eingeführt, was hinzukommt, was sich herein und heraus bewegt an Tieren und Ortschaften, und so werden die Ränder immer wieder selbst zum Spielort. Das zieht unweigerlich in seinen Bann. „Die Katze hielt das für gut und ging mit.“ Manchmal erscheinen leuchtende Farben auf dem Schirm, als Feuer und Drache, oder es entstehen fotografische Effekte. Einer Nebel- oder Dunkelkammer ähnelt der Zauber viel mehr als einer Puppenstube.

Der andere Veranstaltungsort war das Kulturhaus im Ernst -Thälmann-Park. Dort spielte „TheaterPatie“. Im ersten Teil von bewegte feste treten drei Frauen auf, attackieren einen Fotografen, von dem man nicht weiß, ob er bloß zufällig mit stierem Zeiss in der ersten Reihe sitzt - indem sie ihm pur die Posen präsentieren, die er sich immer gewünscht hat. Der büßt aber seine Lust in der Folge, denn der Hochglanz wird zerfleddert und zerstückelt in „Schauspiel, Komödie, Bewegung“. Es geht nämlich um das Davor und Danach der Akte und Selbstdarstellungen; die drei Männer treten gesondert auf. Der geprobte Step stockt im Rhythmus von „so hätt‘ ich doch“ und „oder lieber“, und in der Wahnsinnsnummer schlüpft eine in ein maßloses, sackförmiges Modellkleid; kommt nie mehr heraus, verwandelt sich aber darin in all das, was alles durch den Kopf jagte, wenn man als Kind unter der riesigen Bettdecke herumkroch und sich die Körperteile verselbständigten. Aus dem Alltäglich-Leidigen des jungen Künstlerlebens wird bestes Entertainment an den seligen Rändern der theatralischen Kunst.

Danach wagte man sich an diesem Tag nicht mehr zurück in den Palast, und ohnehin ist es im Kulturhaus wesentlich angenehmer. Die Getränke konnte man auf dem Balkon unterm Dach von der Abendsonne beschienen einnehmen, und von ferne tupfte das Straßengeräusch flaumig die Palastsoße aus den Ohrmuscheln.

Und doch kehrte man zurück am nächsten Tag. Und langsam begann man den Palast ein wenig liebzugewinnen. Auch wegen dreier Männer aus Leipzig, des „Theaters aus dem Hut“, die selbstvergessen eine großartige Revue zusammendichteten. An Morgenstern und andere Surrealisten erinnert ihr Stück Traumzukker. Kontrolliert bewegen sich da die Assoziationen von einem Wort, von einem Buchstaben zum nächsten. Und übernächsten. Dann ist man woanders. „Du wortgewandt“, sagt dann der eine, ein bärtiger Dicker. Und ein dünner Horn- oder Sonnenbrillenträger zwischen Hippie und Rocker, das gelichtete Haar gibt gerade noch genug für einen Zopf her, agiert zwischen schwarzen Tüchern. Als Priester, als Toastbrot, das den Weg nicht nach außen findet unter schwarzem Tuch. Im Bühnengrund wird währenddessen auf Dias die Familiengeschichte der Stühle erzählt: Die kommen zu- und aufeinander, ein dritter Stuhl entsteht, und am Ende hängt sich einer auf. So schön, so sanft, manchmal auch im herausgespuckten Stakkato des Dicken perlen die Geschichten vorbei und tanzen Walzer zum Schluß, suchen Busen oder Po, einer fällt um nach dem Kuß, und „eine Träne bringt ein Glas Wermut vorbei“.

Aber die traurigste Veranstaltung war natürlich die obligatorische Podiumsdiskussion. Zwei Handlungsreisende Männer vom „Theater im sowjetischen Sektor“ mühten sich anschließend in bester Slapstickmanier herauszufinden, wer und ob man denn nun träume, stritten sich um Betten und unterlagen als Blöd-Männer selbstverständlich der Frau im kleinen Schwarzen. Sie fotografierten sich beim Schnapstrinken. Ein tickendes Metronom bedeutete Traumzeit.

Als allerletztes kam dann noch das „Kostümtheater A. Rauh“ und zerquetschte Grimms Allerleirauh beim hastigen Griff in die „westliche Westentasche“ (TheaterPatie). Hervor kamen die Leiden des jungen Mannequins, das so schön ist, daß es nur noch dasitzen kann und immer sagen muß: „Ich warte.“ Mit so dünnem Stimmchen, daß man nichts verstanden hätte, selbst wenn das sehr professionelle Sound-Equipment nicht alles mit Gesynthesizertem meterdick zugeschmiert und die normale Berieslung im Palast zum Prasselregen verdickt hätte. Der Rest war Modenschau als Handlung, die man aber nicht sehen konnte wegen des „Lightdesigns“. Die „Choreographie“ entsprach der lockeren Verteilung von Waren der diversen Designer auf dem Laufsteg.

Dann ging es auf dunkel geheimnisvollen Wegen zum Gruppen und Pressecocktail in abgelegene Kantinenkatakomben. Zum Trinken und Reden. Lieblos wurde Palastsekt ausgeschenkt. Bis daß der Morgen graute.

In die zum Teil ängstliche Haltung der Gruppen gegenüber dem Hereinbruch des „großen offenen Theatermarktes“ mischt sich die merkwürdige Attraktion marktwirtschaftlicher „Wörter“ wie „gesundschrumpfen“, Selektion nach „Qualität“ anstelle von „subjektivistischen Verteilungsmechanismen“ bei der Subventionsvergabe. Dinge, die auch die Landschaft im westlichen Sektor kaum prägen. Gleichzeitig besteht die Hoffnung auf „großzügige“ nichtparteiische Förderung. Das Haupthindernis freier Arbeit sei aber, erklärte Peter Waschinsky, die winzige Zahl der möglichen Vorstellungen gewesen. So wird also die Okkupation geeigneter Spielstätten, gerade entgegen der marktwirtschaftlichen Nutzung der Räume, das Dringendste sein.

Kuhlbrodt/Fiedler